Wenn Kinder zu Eltern ihrer Eltern werden
Zum Beispiel ist da dieser Junge, gerade mal fünf Jahre alt, der seine Mutter unbedingt trösten will. Seit der Trennung von ihrem Mann weint sie viel, manchmal stundenlang. Der Vater des Jungen hat die Familie Knall auf Fall verlassen, seither scheint alles aus dem Ruder zu laufen. Die immense Traurigkeit der Mutter ist für den Sohn kaum aushaltbar. Im Laufe der Jahre wird er sich zu ihrer entscheidenden emotionalen Stütze entwickeln, sich um ihr Wohlbefinden sorgen und ihre Bedürfnisse immer an erste Stelle setzen.
Was da zwischen den beiden geschieht, ist entgegen der üblichen Verabredung zwischen Eltern und ihren Kindern. Eine Rollenumkehr. Auch Parentifizierung genannt. Kinder, die parentifiziert werden, sind also gezwungen, sich um die Bedürfnisse ihrer Eltern zu kümmern, anstatt selbst emotionale Unterstützung zu erhalten.
Der Junge, von dem hier die Rede ist, hat inzwischen viele unglückliche Partnerschaften hinter sich, binden will er sich nicht, schon gar nicht heiraten. Er ist 47 Jahre alt, seine Mutter ist vor dreieinhalb Jahren gestorben. Sein Name, darum bittet er, soll anonym bleiben. Dass das mit den Frauen bisher nicht geklappt hat, liege, wie er sagt, an „meiner verkorksten Kindheit“. Im Grunde sei er ein Ersatzpartner für seine Mutter gewesen, die über viele Jahre keine weitere Beziehung geführt habe.
„Es gab keine sexuellen Übergriffe, aber emotional musste ich immer hundert Prozent für sie da sein“, berichtet er weiter. „Ich machte mir selber den Druck, der beste aller Männer für sie zu sein.“ Irgendwie sei dadurch wohl der „Akku aufgebraucht“. Sobald eine Partnerin ihn emotional zu sehr beanspruche, so wie einst seine Mutter, trete er die Flucht an.
Eltern müssen sich hier selbst reflektieren
Eine Geschichte von vielen. Parentifizierung hat unterschiedliche Auswirkungen, aber es darf davon ausgegangen werden, dass ein Kind, das in eine unfreiwillige Rollenumkehr gerät, kaum unbeschadet bleibt. Es ist leicht nachzuvollziehen, dass es durch die verfrühte Last der Verantwortung eine permanente Überforderung zu stemmen hat. Denn vorgesehen ist nun mal, dass Eltern für ihre Kinder sorgen, ihnen Schutz und Stütze geben und – hoffentlich – liebevolle Begleitung sind auf ihrem Weg zum Erwachsensein.
Doch immer häufiger wird dieser natürliche Gang gestört. Gerade der Anstieg von Trennungen und Scheidungen trägt dazu bei, da es dadurch nicht selten zu einer Umstrukturierung der familiären Rollen kommt. Kinder fühlen sich bisweilen dahin gedrängt, den fehlenden Elternteil ersetzen zu müssen. Nicht nur emotional, sondern mitunter auch organisatorisch.
Gerade hier rutschen Eltern, die meist selbst überfordert sind mit der Trennungssituation, schnell hinein, ohne zu merken, was da eigentlich vor sich geht. Eine Selbstreflexion der Eltern ist gefragt: Warum versuchen Sie Ihrem Kind die Erwachsenenrolle zu geben? Was erhoffen Sie sich davon? Natürlich erleichtert es, wenn das Kind Verantwortung übernimmt, natürlich tut es gut, den Trost des Kindes zu spüren.
Wenn Teenager über Jahre ihre kranken Eltern pflegen
Doch genau hier sollten Eltern schnell ein Stopp setzen und dem Kind freundlich signalisieren, dass es zwar lieb ist, dass sie sich kümmern wollen, aber dass es nicht ihre Aufgabe ist. Auch gilt es, darauf zu achten, dass man Partnerschaftsprobleme nicht mit dem Kind bespricht, da man es dadurch ebenfalls in eine Position bringt, die es nicht mehr Kind sein lässt. Zudem entstehen dadurch auch Loyalitätskonflikte, die es zusätzlich beschweren; kaum ein Kind wird sich zwischen Mutter und Vater entscheiden wollen, es sei denn, es wird dahin gedrängt.
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Auch sogenannte „Young Carers“ sind von Parentifizierung betroffen. Gemeint sind damit Kinder und Jugendliche, die ihre erkrankten Eltern pflegen. Allein in Deutschland sollen laut einer Studie des Zentrums für Qualität in der Pflege (ZQP) über 200.000 Jugendliche zwischen 12 und 17 Jahren betroffen sein. Sie werden nicht nur emotional beansprucht, sondern übernehmen auch Aufgaben im Haushalt, kümmern sich um die Geschwister, erledigen Einkäufe, lösen Rezepte ein, legen Verbände an und verabreichen Medikamente.
In den meisten Fällen ist die Erkrankung der Eltern chronisch oder langsam fortschreitend wie Rheuma, Multiple Sklerose, Lungen- und Herzerkrankungen oder auch Depressionen und Angstzustände. Auch Alkoholismus, Drogenmissbrauch oder andere Suchterkrankungen können dazu führen, dass Eltern von ihren Kindern versorgt werden müssen.
Aus Scham wird beschwiegen
Das greift in der Regel dann, wenn andere familiäre Unterstützungssysteme fehlen, also beispielsweise keine Tante da ist, die das übernehmen könnte oder kein Großvater. Andererseits ist manchmal die Scham so groß, dass die meisten Young Carers nicht über die Pflege von Angehörigen sprechen wollen oder auch nicht die Erkrankten selbst und sich daher auch keine Hilfe holen. Oder sie befürchten ein Eingreifen von staatlichen Institutionen wie beispielsweise dem Jugendamt.
In den meisten Fällen bleibt daher geheim, dass das Kind in einer ständigen Überforderungssituation lebt und regelmäßige Erschöpfungszustände an der Tagesordnung sind. Zugleich lassen sich die Auswirkungen auf Dauer nicht unterdrücken.
So kann es unter anderem zu einem Leistungsabfall in der Schule kommen oder auch zu einem Rückzug aus dem Freundeskreis. Auch das Selbstwertgefühl der Kinder ist oft beeinträchtigt, weil sie aufgrund der Überforderung das Gefühl entwickeln, nie genug zu sein. Da sie ihre eigenen Bedürfnisse zurückstellen, berücksichtigen sie diese irgendwann überhaupt nicht mehr oder denken, diese seien es nicht wert, von anderen beachtet zu werden.
Selbst nicht genug Halt
Sie wissen nicht, was es heißt, versorgt zu sein und lassen oft auch keine Hilfsangebote mehr zu – obwohl sie sich nach einem Versorgtsein sehnen. All das hat, wenn nicht rechtzeitig interveniert wird, weitreichende Folgen auf das weitere Leben, sei es im Beruf oder in der Partnerschaft.
Familiensysteme funktionieren im Grunde wie ein Mobile. Und deshalb ist die Gefahr der Rollenumkehr gerade in herausfordernden Situationen immer in Betracht zu ziehen. Denn: Gerät etwas in Unordnung, also aus dem Gleichgewicht, bemühen sich alle um einen adäquaten Ausgleich – ein neues Gleichgewicht wird wieder hergestellt. Kinder haben von Anfang an ein Gespür, wie es um ihre Eltern steht und reagieren intuitiv, wenn sie etwas kompensieren müssen.
Pränatale Forschungen zeigen, dass Kinder bereits im Mutterleib mitbekommen, wenn Eltern gestresst, traumatisiert oder krank sind, sich ständig streiten, also in instabilen Lebenssituationen sind. Dadurch haben sie selbst nicht genug Halt; ihnen fehlt also ein sogenanntes „holding environment“, und sie können es daher nicht an ihre Kinder weitergeben. Die Folge: Kinder geben ihren Eltern das, was sie selbst bräuchten. Auch das freilich ist ein Ausdruck von Liebe. Doch braucht er seine Korrektur, damit das Kind sich geliebt fühlen darf.
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In dem Artikel wird dieses wichtige, sehr komplexe Thema sehr einfühlsam beleuchtet. Es gilt wahrlich im Umfeld die Augen offen zu halten, um im besten Fall für Entlastung der Betroffen sorgen zu können. Wer immer es in irgendeiner Form selbst erlebt hat, tut gut daran bei sich zu schauen inwiefern seine Verhaltens- und Gefühlswelt noch davon betroffen ist. Ein häufiges Symptom kann sein, sich ständig für alles verantwortlich zu fühlen, oder mehr Verantwortung auf sich zu nehmen, als gut für einen ist.
Wertvoller Beitrag zur Sensibilisierung, danke! Was fehlt, sind Hinweise, wohin sich Kinder/Jugendliche in solchen Fällen Hilfe holen könnten ...
Laetitia M. Sehr herzlichen Dank für Ihre Zeit, den Text zu lesen - und für Ihre Wertschätzung. Tatsächlich ist die Krux, dass Kinder/Jugendliche, so wie ich es im Text darlege, automatisch in diese Rollen schlüpfen und sich meistens gar nicht bewusst sind, was hier eigentlich geschieht. Beziehungsweise, dass sie ja all das aus Liebe zu den Eltern tun und es als ihre Aufgabe sehen - und nicht denken, sie bräuchten Hilfe. Zumindest tun das die wenigsten. Erst im Erwachsenenalter kommt dann vielleicht die Erkenntnis. Wenn man das aber in einer Familie beobachtet, könnte man beispielsweise das Gespräch mit den Eltern suchen. Oder sich bei familienteherapeutischen Beratungszentren Hilfe holen. Gute Grüße an Sie.
In dem Artikel wird dieses wichtige, sehr komplexe Thema sehr einfühlsam beleuchtet. Es gilt wahrlich im Umfeld die Augen offen zu halten, um im besten Fall für Entlastung der Betroffen sorgen zu können. Wer immer es in irgendeiner Form selbst erlebt hat, tut gut daran bei sich zu schauen inwiefern seine Verhaltens- und Gefühlswelt noch davon betroffen ist. Ein häufiges Symptom kann sein, sich ständig für alles verantwortlich zu fühlen, oder mehr Verantwortung auf sich zu nehmen, als gut für einen ist.
Wertvoller Beitrag zur Sensibilisierung, danke! Was fehlt, sind Hinweise, wohin sich Kinder/Jugendliche in solchen Fällen Hilfe holen könnten ...
Laetitia M. Sehr herzlichen Dank für Ihre Zeit, den Text zu lesen - und für Ihre Wertschätzung. Tatsächlich ist die Krux, dass Kinder/Jugendliche, so wie ich es im Text darlege, automatisch in diese Rollen schlüpfen und sich meistens gar nicht bewusst sind, was hier eigentlich geschieht. Beziehungsweise, dass sie ja all das aus Liebe zu den Eltern tun und es als ihre Aufgabe sehen - und nicht denken, sie bräuchten Hilfe. Zumindest tun das die wenigsten. Erst im Erwachsenenalter kommt dann vielleicht die Erkenntnis. Wenn man das aber in einer Familie beobachtet, könnte man beispielsweise das Gespräch mit den Eltern suchen. Oder sich bei familienteherapeutischen Beratungszentren Hilfe holen. Gute Grüße an Sie.