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Kolumne „Ein bisschen besser“

Die Musik ist lauter als das Weinen

Als meine Erinnerung einsetzt, da muss ich so drei Jahre alt gewesen sein, hörten meine Eltern in der alten Universitätsstadt Göttingen in ihrer Studentenbude, die wir fortan zu dritt bevölkerten, eine Single. Singles waren damals keine alleinlebenden Menschen, die eigene Wohnungen suchen, mit Hello Fresh was Tolles kochen und mitten in der Nacht Fitnessstudios benutzen, sondern so hießen diese tellergroßen schwarzen Scheiben, für die ein Plattenspieler nötig war, um ihnen Töne zu entlocken. 

„Una festa sui prati, una bella compagnia, panini, vino, un sacco di risate“, schmetterte Adriano Celentano mit rauer Stimme dann durch die Bude: ein Fest auf dem Rasen mit guten Freunden, Brot, Wein, viel Gelächter. Das Leben kann so einfach sein. Damals in den Sechzigern, als der Krieg kalt war.

Wie eine Brücke über tosendem Wasser

Meine Frau Judith ist ein Kind der Siebziger, als die Grünen Fahrt aufnahmen, die Frauen entschlossen den Herd ausstellten und Europa zusammenwuchs. „Was war deine erste Musik?“, frage ich sie. Sie steht im Bademantel an der geöffneten Außentür zur Terrasse, die sich Richtung Comer See erstreckt, Adriano für die Location mitverantwortlich. 

Sie hält den Morgenkaffee in der Hand und fängt an zu summen: „Like a bridge over troubled water. I will lay me down“: Wie eine Brücke über tosendem Wasser, werde ich mich darüberlegen. Ich höre es und weiß, dass mir Simon und Garfunkel heute nicht mehr aus dem Ohr gehen werden. Ich ziehe mir den Stream runter und lasse die Hymne durch die geöffnete Tür über die Terrasse und den Rasen hinweg, auf dem wir nachher Brot und Wein servieren, ins Tal schallen.

Judith dreht die Musik leiser, damit wir das Töchterchen bemerken, falls es aufwacht. Es hatte sich jüngst beschwert: „Ich habe so laut geweint, und ihr habt mich nicht gehört.“ Ja, so ist das bei uns, hatte ich bei mir gedacht: Es ist ein bisschen besser, wenn die Musik lauter ist als das Weinen. Und wenn die Musik einmal vorbei ist – legen wir eine neue Platte auf. Mit Musik – da sind wir niemals Single.

Lachen und Liebe ist es, was das Herz anfasst

Das Töchterchen ist ein Kind der 2020iger, und bald wird wohl der Song komponiert, der der erste sein wird, an den sie sich dann erinnert. Der Krieg lauert um die Ecke, und bei jedem Sonnenstrahl denken alle außer uns, dass er ein Katastrophenbote des Klimawandels ist. 

Aber ich bin sicher: Auch das Töchterchen wird in einem halben Jahrhundert mit einem Kaffee am Fenster stehen und ihr Lied hören. Ich wette, es wird eines sein, in dem es um Lachen und Liebe geht, weil es das ist, was das Herz anfasst. „E luminosi sguardi di ragazze innamorate“ – und strahlende Blicke verliebter Mädchen. 

So hatte, Adriano, mein Held, es noch seiner Strophe hinzugefügt. Mir fällt das ein, während ich den Blick von Judith spüre, der mich kurz streift.

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