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Gemeinsam für die Freiheit

Walk for Freedom in Luzern – Ein Marsch gegen Menschenhandel

Die Kundgebung in Luzern beginnt um 14.00 Uhr beim Musikpavillon am Quai zwischen den renommierten Hotels Schweizerhof und National mit Blick auf den Gipfel des Pilatus und den Vierwaldstättersee. Rund 70 Teilnehmer stehen in dunkler Kleidung bereit, um loszulaufen. Weltweit gehen an diesem Samstag junge Menschen auf die Straße, um auf das Thema Menschenhandel aufmerksam zu machen. Der Walk for Freedom findet zeitgleich am 19. Oktober in weiteren Schweizer Städten wie Zürich, Basel und Bern sowie in Deutschland und Österreich statt, unter anderem in Berlin, Düsseldorf, Stuttgart und Wien.

Alle Teilnehmer waren gebeten worden, schwarze Kleidung zu tragen, als Zeichen der Solidarität mit den Opfern des Menschenhandels. Die Organisatorinnen halten eine kurze Ansprache, in der sie die Teilnehmer über Fakten und Zahlen zum Menschenhandel und über das Verhalten während des Marsches informieren. Neben dem Podium gibt es auch Kleidung und Kunst zu kaufen, deren Erlös für den Kampf gegen Menschenhandel gespendet wird.

Plötzlich wird schwarzes Klebeband herumgereicht. Eine Helferin schneidet vorsichtig kleine Stücke davon ab und gibt sie den Teilnehmern, die ihre Lippen damit zukleben wollen. Der Marsch ist optisch einheitlich gestaltet. Mit den gestalterischen Maßnahmen soll eine möglichst starke Wirkung erzielt werden. Das Zukleben des Mundes soll eine symbolische Geste sein, um zu verdeutlichen, dass Opfer von Menschenhandel oft keine Stimme haben. Aus diesem Grund wird der Marsch bewusst schweigend durchgeführt.

Um 14:15 Uhr setzte sich die Gruppe in Bewegung, angeführt von der Polizei, die den Marsch schützte. Die Route führte vom Musikpavillon in Richtung Bahnhof Luzern, entlang der Seebrücke und durch ruhigere Straßen zurück zum Ausgangspunkt. Einige Teilnehmer trugen Plakate, während andere Helfer Flyer an Passanten verteilten, die sich interessiert zeigten und den Erklärungen aufmerksam lauschten. 

Doch worum geht es, wenn von Menschenhandel die Rede ist?

Opfer von Menschenhandel: Das kann die Nageldesignerin im Nagelstudio um die Ecke sein, die Haushaltshilfe der Nachbarin, der Wochenaufenthalter auf dem Bauernhof nebenan, die Prostituierte im Bordell oder die junge Frau, die frisch verliebt ist und nicht ahnt, dass sie gerade von einem „Loverboy“, einer bekannten Masche des Menschenhandels, angeworben wird. 

Die Vereinten Nationen definieren Menschenhandel durch drei Hauptmerkmale

  • Rekrutierung, Transport oder Unterbringung von Personen; 
  • Anwendung von Gewalt oder Täuschung, einschließlich physischem oder psychischem Missbrauch, Einbehaltung von Dokumenten oder Einkünften und Einschränkung der Bewegungsfreiheit; 
  • das Ziel der Ausbeutung, wie Zwangsarbeit, Sklaverei oder Organhandel. 
Teilnehmer des Walk for Freedom 2024 in Luzern

Nicht alle Kriterien müssen erfüllt sein, damit man von Menschenhandel sprechen kann. Menschenhandel findet grenzüberschreitend sowie innerhalb eines Landes statt, und moderne Formen wie „Cyber Trafficking“ (Rekrutierung übers Internet) erschweren die Bekämpfung.

Die Anzahl der Opfer von Menschenhandel kann nicht exakt bestimmt werden, da diese Form der Kriminalität häufig im Verborgenen stattfindet. Dennoch existieren Schätzungen. 

Die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) schätzt, dass im Jahr 2021 rund 50 Millionen Menschen weltweit Opfer von Zwangsarbeit und Zwangsheirat waren. 

Wie ist die Situation in Deutschland …

Laut dem ersten umfassenden Bericht des Deutschen Instituts für Menschenrechte (DIM) der am Freitag, den 18. Oktober, pünktlich zum Europäischen Tag gegen Menschenhandel vorgestellt wurde, werden in Deutschland im Schnitt täglich drei Fälle von Menschenhandel bekannt.

Zwischen 2020 und 2022 wurden in Deutschland 3.155 Betroffene von Menschenhandel identifiziert, wobei zwei Drittel der Opfer weiblich waren und über ein Viertel minderjährig. Während mehr als 90 Prozent der Opfer sexueller Ausbeutung Frauen sind, sind bei der Arbeitsausbeutung über die Hälfte Männer. Zudem suchten 3.704 Menschen Hilfe bei Beratungsstellen. Obwohl 2.021 Tatverdächtige ermittelt wurden, kam es nur zu 509 Verurteilungen. 

 

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Im Berichtszeitraum waren Deutsche sowie Personen aus Südosteuropa (Rumänien, Bulgarien, Ungarn) und (Süd-)Ostasien (China, Thailand, Vietnam) betroffen. Bei Arbeitsausbeutung stammten die meisten Betroffenen aus (süd-)osteuropäischen Staaten. In einem Großverfahren 2022 in der Getränkelogistik wurden viele Opfer aus der Ukraine, Georgien, der Slowakei, Bulgarien, Rumänien, Litauen und der Republik Moldau identifiziert, wobei Ukrainer die größte Gruppe bildeten.

… in der Schweiz und Österreich?

Im Jahr 2023 wurden in der Schweiz insgesamt 488 Opfer von Menschenhandel von den vier Fachstellen der Plateforme Traite, der größten Schweizer Plattform zum Thema Menschenhandel, begleitet und beraten. 75,5 Prozent der Opfer waren Frauen, aber auch Männer machen mit 23 Prozent einen bedeutenden Anteil aus. Dieser Anstieg männlicher Opfer ist auf verstärkte Kontrollen in männlich dominierten Arbeitssektoren zurückzuführen. Die Opfer kamen aus 55 verschiedenen Ländern, wobei 56 Prozent aus afrikanischen Staaten wie der Demokratischen Republik Kongo, Kamerun und Somalia stammten. Weitere Opfer kamen aus Europa, Lateinamerika und Asien.

Walk for Freedom: Schweigend durch die Strassen von Luzern

In Österreich wurden vergangenes Jahr 42 Opfer von Menschenhandel nach § 104a Strafgesetzbuch (Menschenhandel) identifiziert, darunter 33 Frauen und 9 Männer. Zusätzlich wurden 17 weibliche Opfer nach § 217 Strafgesetzbuch erfasst (Grenzüberschreitenden Prostitutionshandel). Rund 52 Prozent der weiblichen Opfer von Menschenhandel kamen aus Kolumbien und Nigeria, 34 Prozent der Opfer aus EU-Staaten wie Rumänien, Ungarn, Bulgarien und der Slowakei, und 14 Prozent aus Drittstaaten wie Äthiopien, Brasilien, Madagaskar und Serbien.

Alle Zahlen sind mit Vorsicht zu betrachten, da sie nur die bei der Polizei oder zivilen Organisationen angezeigten und an die Gerichte weitergeleiteten Straftaten wiedergeben.

Interview mit Kämpferin gegen Menschenhandel

Der Marsch in Luzern endet gegen 16:00 Uhr wieder am Musikpavillon, wo das Jazz-Duo „defacto“ aus Luzern die Menge mit berührenden Liedern über Freiheit begeistert. Es folgte eine inspirierende Ansprache von Claudine Tanner, Gründerin des nachhaltigen Modelabels „Moya Kala“, die sich besonders gegen die Ausbeutung in der Textilbranche engagiert. Tanner war zuvor Teamleiterin des Vereins bLOVEd Luzern, einer Organisation, die sich für den Schutz und die Unterstützung von Menschen im Rotlichtmilieu einsetzt. Der Verein unterstützt seit 2013 Frauen und Männer in der Prostitution und hat die Aktion „Walk for Freedom“ nach Luzern geholt.

Der Walk for Freedom wird in der Schweiz von dem Lona Project koordiniert und unterstützt die weltweite Kampagne A21, die sich dem Ziel verschrieben hat, den Menschenhandel durch Aufklärung, Intervention und Opferhilfe zu bekämpfen. 

Nach der Veranstaltung treffen wir Christina Wüthrich, die heutige Leiterin von bLOVEd Luzern, zu einem Interview.

Wie sind Sie dazu gekommen, sich für die Opfer von Menschenhandel einzusetzen?

Als ich ein Kind war, unterstützten meine Eltern drei Patenkinder aus Osteuropa. Unsere Eltern haben uns immer die Rundbriefe vorgelesen, so wussten wir immer, wie es diesen Waisenkindern geht. Es ging darum, ihnen eine gute Ausbildung zu ermöglichen und sie vor Menschenhandel zu schützen. Meine Mutter hat immer betont, dass wir anderen helfen sollen, weil es uns gut geht. Das hat mich geprägt. Später habe ich mich mehr mit dem Thema beschäftigt. Zuerst mit Menschenhandel, dann mit Prostitution in der Schweiz. Ich wollte mich engagieren, wusste aber nicht wie. Ich konnte höchstens spenden.

Wann wurde Ihr Engagement konkreter?

Als ich Sozialarbeit studierte, kam meine Mitbewohnerin auf mich zu und erzählte mir von Leuten, die ins Rotlichtmilieu gehen, um Frauen zu besuchen. Um 18 Uhr teilte sie mir mit: „Ich habe denen von bLOVEd gleich gesagt, dass du Interesse hast. Du musst heute Abend um 19:30 Uhr bereit sein.“ Da bin ich einfach hingegangen. Claudine Tanner war auch da. Dieser Besuch hat mich sehr berührt. Ich wollte mich für Gerechtigkeit einsetzen, denn schon in der Bibel steht, dass man sich für Witwen und Waisen einsetzen soll. Heute sind Witwen und Waisen durch den Sozialstaat gut versorgt, was nicht heißt, dass es allen gleich gut geht. Aber ich glaube, dass diese Frauen heute unsere Witwen und Waisen sind, oder diese Männer und Frauen, die heute ausgebeutet werden. Ihnen möchte ich dienen.

Wie sieht Ihr Arbeitstag bei bLOVEd aus?

Ich bin vor Ort, wir haben eine Anlaufstelle, die immer offen ist. Die Frauen können vorbeikommen, einen Kaffee trinken, aber sie können uns auch anrufen und ihr Problem schildern. Das hat nicht immer mit Menschenhandel zu tun. Manchmal verstehen sie die Unterlagen der Krankenkasse nicht oder so etwas. Es geht auch um gesundheitliche Probleme und dann vermitteln wir sie an Ärzte. Wir helfen ihnen auch, Lebensläufe zu schreiben, wenn sie aus der Prostitution aussteigen wollen. Wir machen Termine und dann helfen wir da, wo Not am Mann ist. Es ist eine Mischung aus Frauen, die spontan kommen und Frauen mit festen Terminen. Es gibt auch Tage wo wir in Schulungen sind, wo es um Prävention geht und wir Aufklärung machen. Die Tage sind sehr unterschiedlich. Jeden Dienstagabend gehen wir in die Bordelle, da machen wir aufsuchende Arbeit. 

Christina Wüthrich beim Walk for Freedom, Luzern 2024

Habt ihr gute Erfahrungen in den Bordellen oder werdet ihr auch schon mal rausgeschmissen?

Wenn die uns nicht wollen, kommen wir gar nicht erst. Aber grundsätzlich haben wir sehr gute Erfahrungen gemacht. Der Zuhälter ist auch nicht immer da, wenn wir kommen. Meistens sind Rezeptionistinnen da oder Puffmütter, die vor Ort sind und zum Teil selbst Prostituierte waren und deshalb auch Mitgefühl haben. Die freuen sich auch über ein Geschenk. Wir nehmen jedes Mal etwas mit. 

Und was passiert, wenn eine Frau aussteigt? Gibt es dann Kritik?

Ja, es gibt Bordelle, da haben wir keinen Zutritt mehr, weil sie mitbekommen haben, dass eine Frau wegen uns ausgestiegen ist. Normalerweise achten wir darauf, dass die Frau, die aussteigt, uns nicht als Grund angibt. Wir holen eigentlich niemanden aktiv raus. Wenn es einen Polizeieinsatz gibt, weil der Verdacht auf Menschenhandel besteht, sind wir nicht dabei. Wir müssen auch auf unsere Sicherheit achten. Meistens kommen die Frauen unbemerkt zu uns und wir stehen dann nicht direkt in Verbindung mit dem Fall.

 

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