Auf dem Weg zu einem Chaos à la française
Die Bibel sagt: „Die Ersten werden die Letzten sein“. Genau das empfanden die Tausenden Wähler und Abgeordneten des Rassemblement National (RN). Vergangenen Sonntag wurden die Ergebnisse dieser vorgezogenen Parlamentswahlen in Frankreich bekanntgegeben. Zur allgemeinen Überraschung lag das Bündnis der linken Parteien vorne, dicht gefolgt von Emmanuel Macrons Partei „Renaissance“, die alle als großen Verlierer angekündigt hatten.
Am Abend des neunten Juni, als die Ergebnisse der Europawahlen bekannt wurden, erreichte der rechtsradikale RN mit 31,3 Prozent der Stimmen den ersten Platz. Drei Wochen später, nachdem Emmanuel Macron die Nationalversammlung aufgelöst hatte, um „den Franzosen wieder das Wort zu geben“ und sie neue Abgeordnete wählen zu lassen, erreichte der Rassemblement National im ersten Wahlgang nur 29,25 Prozent der Stimmen.
Im zweiten Wahlgang lag der RN mit 37,1 Prozent wieder ganz vorne. Allerdings zählt im französischen Mehrheitswahlsystem letztendlich nicht das prozentuale Ergebnis, sondern die Siege der jeweiligen Wahlkreise. Hier konnte das linksradikale Bündnis Nouveau Front Populaire (Neue Volksfront, NFP) die meisten Sitze für sich gewinnen und hat damit die Wahl insgesamt gewonnen. Die Nationalversammlung ist nun in drei große Blöcke geteilt.
Französische Brandmauer gegen den RN
In den Minuten nach der Ankündigung von Emmanuel Macron, die Nationalversammlung aufzulösen, versammelten sich die verschiedenen linken Parteien unter einer einzigen Fahne: der der Nouveau Front Populaire. Diese vereint die radikale Linke, die Kommunistische Partei, die von Jean-Luc Mélenchon 2016 gegründete linkspopulistische und EU-skeptische La France insoumise („Unbeugsames Frankreich“), die Sozialistische Partei und die Grünen.
Die Zeit zwischen den beiden Wahlgängen war geprägt von einer Reihe von Rückzügen im Namen der sogenannten „republikanischen Barriere“, einer Art Brandmauer gegen den RN. 217 Kandidaten, darunter 130 aus Macrons Partei und 80 aus der Neuen Volksfront, zogen sich für den zweiten Wahlgang zurück, damit drei zur Wahl stehende Abgeordnete vermieden würden. Dadurch sollte der Kandidat, der nicht dem RN angehört, gestärkt werden.
Dies war eine wiederkehrende Blockadestrategie, die seit den 1980er Jahren mit dem Aufstieg des Front National, dem Vorgänger des Rassemblement National, erfolgreich angewendet wird. Obwohl diese Strategie bei den Europawahlen und im ersten Wahlgang der Parlamentswahlen nur mäßig funktioniert hatte, erwies sie sich am siebten Juli als überraschend effektiv.
Alle Parteien sind innerlich zersplittert
Folgt nun die Ruhe nach dem Sturm? Weit gefehlt. Die Nationalversammlung ist jetzt in drei Hauptblöcke aufgeteilt, die alle stark zersplittert sind. Das Bündnis Neue Volksfront hat 187 Sitze, die Präsidentenpartei 159 und der Rassemblement National und ihre Bündnispartner 142. Die restlichen 89 Sitze sind auf andere Gruppen verteilt, darunter die Mitterechtspartei Les Républicains. Der linke Block verkündete schnell seinen Sieg und forderte die Ernennung eines Premierministers aus seinen Reihen. Namen wie Jean-Luc Mélenchon, der gleichermaßen bewundert und kritisiert wird, wurden genannt.
Die französische Verfassung sieht vor, dass im Falle einer „Cohabitation“ (diese tritt ein, wenn eine andere Partei als die des Präsidenten die Mehrheit in der Nationalversammlung hat) der Premierminister aus der größten Gruppe im Parlament kommen muss. Der Premierminister hat dann die Aufgabe, seine Regierung in Absprache mit dem Präsidenten der Republik zu ernennen. Diese Aufgabe erweist sich als sehr komplex für Emmanuel Macron, der mit drei Hauptgruppen konfrontiert ist, darunter seiner eigenen, die bereits interne Spannungen aufweist.
Premierminister Gabriel Attal, ein vielversprechender Jungpolitiker der „Macronie“, reichte am Tag nach dem zweiten Wahlgang seinen Rücktritt ein. Doch Emmanuel Macron hat ihn bisher nicht akzeptiert. Wenige Tage vor den Olympischen Spielen ist ein entscheidender Regierungswechsel riskant.
Wie Gesetzesentwürfe noch durchgebracht werden können
Neben der Regierungsbildung bleibt die Frage, auf welche Nationalversammlung Emmanuel Macron sich stützen wird, um zu regieren. Ohne absolute Mehrheit scheint es sehr schwierig zu sein, Gesetzesentwürfe durchzubringen. Jede Fraktion hat bereits angekündigt, dass sie gegen jedes Vorhaben blockieren werde.
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Ohne Mehrheit in der Nationalversammlung bleibt nur die Option, Artikel 49.3 zu nutzen. Dieser Artikel der Verfassung ermöglicht es der Regierung, per Dekret zu regieren, ohne die Zustimmung der Nationalversammlung einholen zu müssen. Emmanuel Macron gilt als Meister dieser Möglichkeit, hat er doch bereits etwa fünfzehn Mal den Artikel 49.3 genutzt, um Gesetze durchzusetzen. Diese Methode wurde von La France insoumise – dem Hauptmitglied der Neuen Volksfront – stark kritisiert, bevor sie plötzlich ihre Meinung änderte und vorschlug, sie selbst zu nutzen, um ihr eigenes Programm durchzusetzen.
Neue Volksfront will Legalisierung der Sterbehilfe
Das politische Frankreich ist nun in drei Blöcke gespalten, die wenig gemeinsam haben. Das Bündnis der linken Parteien hat sich um ein ökologisches und soziales Programm geschart, das Maßnahmen wie den Preisstopp für Grundnahrungsmittel, die Erhöhung des Mindestlohns, eine offene Haltung zur Einwanderung und umfangreiche öffentliche Ausgaben vorsieht. Auch eine „Reichen“- und Erbschaftsteuer soll eingeführt werden.
Im Gegensatz dazu schlägt der Rassemblement National strikte Maßnahmen in den Bereichen Einwanderung, Sicherheit und Kaufkraft vor. In der Mitte steht die Partei von Emmanuel Macron, die vor allem die Bilanz der letzten sieben, von Krisen geprägten Jahre, verteidigt. Frankreich ist somit nicht nur gespalten, sondern vor allem polarisiert zwischen zwei extremen Kräften, wobei Emotionen, so scheint es, die Oberhand über Vernunft, Dialog und Reflexion gewonnen haben.
In den letzten Monaten wurden die Diskussionen über das Projekt zur Legalisierung der Sterbehilfe in Frankreich intensiv geführt. Das Projekt wurde jedoch abrupt gestoppt, als die Nationalversammlung aufgelöst wurde. Die Neue Volksfront nahm dieses Projekt sofort in ihr Programm auf mit dem Ziel, die Legalisierung der Sterbehilfe in den ersten 100 Tagen der neuen Regierung durchzusetzen.
Viele Katholiken wählten Le Pens Partei
Viele Katholiken neigten dazu, ihre Stimme dem Rassemblement National zu geben, insbesondere um die von der Präsidentenpartei geförderten Vorhaben zu blockieren und das linke Bündnis zu verhindern. „Renaissance“ hatte bereits ein Gesetz zugelassen, welches die künstliche Befruchtung auf Krankenschein für alle Frauen genehmigt. Außerdem will Macron die aktive Sterbehilfe unter bestimmten Auflagen legalisieren. Die Neue Volksfront wiederum macht gesellschaftspolitische Fragen zu einem Kitt, der ihre zahlreichen Unterschiede zusammenhält.
Einige Parteifunktionäre machen keinen Hehl daraus, dass sie die Leihmutterschaft, die Geschlechtsumwandlung für Minderjährige und den Konsum von Cannabis legalisieren wollen. Als Verteidiger aller Minderheiten setzen sie sich häufig für die Rechte von LGBTQ-Personen ein.
Keine echte Pro-Life-Partei
Der Rassemblement National hat ein zwiespältiges Verhältnis zu politischen Themen, die Katholiken am Herzen liegen. Bei den Debatten, die das Lebensende betreffen, sprachen sich nur wenige RN-Abgeordnete gegen die Legalisierung der Sterbehilfe aus. Im vergangenen Herbst stimmte die Mehrheit der RN-Abgeordneten, darunter ihre Anführerin Marine Le Pen, dafür, die „Freiheit zur Abtreibung“ in die Verfassung aufzunehmen. Seit etwa zwanzig Jahren setzt die rechtsradikale Partei nicht mehr auf bioethische Themen – schon 2013 sprachen sich nicht alle ihre Abgeordneten gegen die Ehe für alle aus –, sondern mehr auf Einwanderung und Sicherheit.
„Man gewinnt keine Wahl mit Themen wie gleichgeschlechtliche Ehe oder der künstlichen Befruchtung auf Krankenschein“, sagte eine ehemalige RN-Mitarbeiterin der katholischen Zeitung La Croix. Doch auch wenn der Rassemblement National in bioethischen Fragen und der Förderung der Familie nicht vorbildlich ist, setzt er sich zumindest nicht für deren Zerstörung ein.
Die französischen Katholiken sind seit etwa zehn Jahren angesichts des Mangels an politischen Entscheidungen, die ihren Werten entsprechen, hin- und hergerissen. Bei den Parlamentswahlen am vergangenen Sonntag war die Spannung besonders groß. Diskutanten in Talkshows, Wortmeldungen von Akademikern, kirchlichen Mitarbeitern oder auch von Ordensleuten riefen im Namen des katholischen Glaubens dazu auf, Marine Le Pens Partei zu blockieren. Trotz ihres geringen Anteils an der französischen Bevölkerung – praktizierende Katholiken machen nur ungefähr 6,6 Prozent aus – standen sie im Mittelpunkt des Wahlkampfs. Es wurde mit dem Finger auf sie gezeigt, und sie wurden dazu aufgefordert, sich in der einen oder anderen Richtung zu engagieren.
Emmanuel Macrons Stellung trägt nicht zur Beruhigung der Frustrationen bei, die Millionen von Franzosen empfinden, die um ihre Kaufkraft, Sicherheit und Zukunft fürchten. Viele fühlen sich von der Pariser Elite, die von den zahlreichen öffentlichen Dienstleistungen profitiert, die anderswo schmerzlich fehlen, nicht anerkannt.
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Kann es sein dass der Anteil an Katholiken (gem. Bericht nur 6.6%) an der gesamten Bevölkerung falsch angegeben ist? Gemäss Onlinekanälen sollte dieser Wert bei mind. 50% liegen...
Vielen Dank für Ihren Hinweis. Tatsächlich handelt es sich um praktizierende Katholiken. Wir haben den Fehler korrigiert.
Herzliche Grüße
Lukas Steinwandter
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