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Brandt-Rücktritt vor 50 Jahren

Ein Denkmal fällt vom Sockel

Die Lunte war gelegt, jemand musste sie nur noch anzünden. Das geschah nach der Verhaftung des Ehepaars Guillaume am 24. April 1974. Selbstredend wusste die politische Klasse inklusive der Journalisten mehr als in der Zeitung stand. Brandt hingen Spottnamen wie „Whisky Willy“ an, die Ehe mit der gebürtigen Norwegerin Rut war desolat, seine außerehelichen Beziehungen kein Geheimnis. Zudem litt er periodisch unter Depressionen, die ihn handlungsunfähig machten. Seine physische und psychische Verfassung war in diesen Monaten besonders schlecht.

Willy Brandt ging aber selbst in besseren Zeiten Konflikten gern aus dem Weg. Es kam, wie es kommen musste. Wusste Günter Guillaume und damit das MfS in Ost-Berlin etwas über seine außerehelichen Beziehungen? War Brandt mit dem von Guillaume erbeuteten Material erpressbar geworden? Das BKA nahm sogar Brandts Leibwächter ins Verhör. Heraus kam ein Dossier mit den Frauen, die der Referent dem Kanzler „zugeführt“ haben könnte.

Die Medien hatten einen Anlass gefunden, um über Brandts Privatleben als potenzielles Sicherheitsrisiko zu berichten. In der Gerüchteküche wurde ein Cocktail aus Wahrheiten, Halbwahrheiten und Lügen gemischt, ob gerührt oder geschüttelt, ist nicht bekannt. Brandt tat aber auch nichts, um diese Lawine rechtzeitig zum Stehen zu bringen. Die Bild-Zeitung fasste das Medieninteresse am 4. Mai in einer Schlagzeile unnachahmlich zusammen: „Machte Kanzler-Spion Porno-Fotos?“ Rut Brandt, seit 1980 geschieden, schilderte das in ihren 1992 erschienenen Erinnerungen mit der gebotenen Diskretion. Ihr sei seine „Neigung in diese Richtung nicht unbekannt gewesen“. Es sei aber entsetzlich gewesen, wie diese „Dinge in den Zeitungen ausgebreitet und hochgespielt wurden – nicht Guillaumes Spionage war mehr das Wichtigste, sondern alles andere drum herum“.

Brandt tritt zurück, resigniert und ohne Unterstützer

KGB-General Wjatscheslaw Keworkow konnte sich 1995 in seinem Buch über den „Geheimen Kanal“ den Spott nicht verkneifen. Man sei nach der Enttarnung auf alles gefasst gewesen, aber „seltsamerweise interessierte sich für uns niemand. Offenbar hatte die deutsche Justiz genügend Beweise dafür, dass Lednev und ich nicht dem weiblichen Geschlecht angehörten“. Waleri Lednew war ein russischer Journalist und Mittelsmann aus dem direkten Umfeld von Kremlchef Leonid Breschnew, der Weihnachten 1969 den ersten Kontakt zu Egon Bahr herstellte.

An Selbstmord gedacht: Der scheidende Bundeskanzler Willy Brandt verabschiedet sich nach seinem Rücktritt von Innenminister Hans-Dietrich Genscher (FDP, 2. v. r.) beim Empfang der Entlassungsurkunden bei Bundespräsident Gustav Heinemann, Bonn, 7. Mai 1974

Brandt trat schließlich am 7. Mai zurück. Die Gründe waren die von ihm vermisste Unterstützung, ob von Herbert Wehner oder von seiner Ehefrau Rut Brandt. Dazu kam die persönliche Resignation, wo er sogar an Selbstmord dachte. Das schon vorher bröckelnde Denkmal war vom Sockel gefallen. Sein Nachfolger wurde Helmut Schmidt, Brandt blieb allerdings bis 1987 der SPD-Parteivorsitzende. Wahrscheinlich gibt es keinen zweiten deutschen Politiker, bei dem die Persönlichkeit mit ihren Stärken und Schwächen so im Vordergrund stand wie bei ihm. Es machte einen Teil der Faszination aus, die er auf viele Menschen ausstrahlte.

50 Jahre später ist diese Affäre in den Tiefen der Geschichtsschreibung versunken. Die damaligen Protagonisten leben nicht mehr, die nachgeborenen Historiker versuchen sich einen Reim auf diese Affäre zu machen. In der Geschichte der Spionage ist dieser Fall als ein Kuriosum zu werten. Guillaumes nach Ost-Berlin übermittelte Erkenntnisse hielten sich in überschaubaren Grenzen. Er war keineswegs der Meisterspion, wie sich nach der Auflösung des Ministeriums für Staatssicherheit zeigen sollte.

Damals die Minox, heute Hackerangriffe

Hier wird auch der wichtigste Unterschied zur Gegenwart deutlich. Damals waren menschliche Quellen die einzige Möglichkeit, um an Geheimnisse des Gegners zu gelangen. In den Zeiten der Guillaumes arbeiteten Spione noch mit einer Minox-Kamera, um Dokumente zu fotografieren, oder sie mussten diese aus den Büros herausschmuggeln, um sie irgendwo zu kopieren. Heute geschieht das über den Hackerangriff auf die digitale Infrastruktur.

Gleichzeitig ist der Umfang der erbeuteten Dokumente nicht mehr vergleichbar: Es werden heute nicht mehr einzelne Dokumente gestohlen, sondern diese füllten ganze Lkw-Ladungen, wenn jemand auf die Idee käme, sie auszudrucken. Davon profitierten Geheimdienste wie die National Security Agency (NSA) in den Vereinigten Staaten, die mit der Digitalisierung zugleich einen vorher ungeahnten Zugriff auf die Kommunikation aller Bürger bekamen. Das Ausmaß der Überwachung wurde einer breiten Öffentlichkeit erst mit den Veröffentlichungen des Whistleblowers Edward Snowden im Jahr 2013 bekannt.

 

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Geheimdienste sollten zwar schon immer ihre Regierungen über die Absichten und Potenziale des Gegners informieren, aber eine ihrer zentralen Aufgaben war gleichzeitig die Beeinflussung der eigenen und der gegnerischen Öffentlichkeit. Das nennt man Desinformation, weil Geheimdienste nicht an Fakten interessiert sind, sondern nur an denen, die ihren politischen Zielen nutzen.

Wobei die Guillaume-Affäre ein gutes Beispiel dafür ist, wie es aussieht, wenn Geheimdienste selbst nicht mehr wissen, was valide Information und was Desinformation ist. Als es um die Frauen ging, die Guillaume dem Kanzler „zugeführt“ haben soll, ließen sich die Fantasien seiner Sicherheitsbeamten und der Ermittler im BKA nicht mehr von der Wirklichkeit unterscheiden. So war in einem Hotelzimmer des Kanzlers einmal ein Damen-Schmuckstück gefunden worden, das dann diskret der Eigentümerin zurückgegeben wurde. Es war aber niemandem aufgefallen, dass der Spion aus Ost-Berlin zu der Zeit noch gar nicht im unmittelbaren Umfeld des Kanzlers tätig war.

Veränderte politische Schlachtordnung

Schon knapp zehn Jahre vor Edward Snowden beschrieben Paul Todd und Jonathan Bloch in ihrem Buch „Globale Spionage. Geheimdienste und ihre Rolle im 21. Jahrhundert“, wie sich eine „böse Ahnung“ breitmacht, dass „in der Spionage … das menschliche Handeln von der Technik überholt, wenn nicht gar dadurch bestimmt wird … und dass diese Technologie mehr und mehr gegen Menschrechtsgruppen und legitime Proteste eingesetzt wird“.

Inzwischen hat sich allerdings die politische Schlachtordnung verändert: Damals richtete sich diese Kritik an den Umgang konservativer Regierungen mit linken Gruppen, heute benutzen es vermeintliche Linksliberale in den Regierungen zum Kampf „gegen rechts“. So verschwimmen die Grenzen zwischen geheimdienstlicher Agententätigkeit als strafbarer Handlung wie in der klassischen Spionage, und einer bloßen Meinungsäußerung, die in die Nähe des Landes- und Hochverrats gerückt wird; das allein deswegen, weil sie die „Narrative“ gegnerischer Mächte übernähmen.

Landwirte und ihre Sympathisanten demonstrieren vor dem Brandenburger Tor, 2024: Geheimdienstlicher Vorwurf der „Delegitimierung des Staates“

Eine strafbare Handlung muss man in solchen Systemen niemandem mehr nachweisen, weil das Urteil nicht in einer Freiheitsstrafe, sondern in der sozialen Ächtung besteht. Bei uns wird das mit freiheitsfeindlichen Konstrukten wie dem geheimdienstlichen Vorwurf der „Delegitimierung des Staates“ durchgesetzt.

So war Guillaume ein Unfall der Geheimdienste, wirft aber bis heute ein Licht auf die Umstände, in denen sie agieren. In einem Klima des Misstrauens kursierten alle möglichen Verdächtigungen. Häufig war nicht der Spion das Problem, sondern die Befürchtung, für ihn zur politischen Verantwortung gezogen zu werden.

Zudem ging es um die Karrieren des Spitzenpersonals der sozialliberalen Koalition. Außenminister Walter Scheel (FDP) sollte Bundespräsident werden, Genscher der neue Hausherr im Auswärtigen Amt. Helmut Schmidt hielt sich für den besseren Kanzler, wie jeder wusste. Die Gesellschaft war hochgradig polarisiert, manchmal grenzte das an Hass auf den politischen Gegner. Medien und Journalisten bildeten das ab. Ohne sie erfuhr niemand etwas, es gab noch kein Internet, aber sie schufen manchmal die Verwirrung, die sie anschließend beklagten.

Rücktritt in einer Übergangszeit

Hier lässt sich ein besonders groteskes Beispiel nachlesen. Unter heutigen Bedingungen wären die Geheimdienste in Ost und West aber nicht mehr auf die klassischen Journalisten angewiesen, um ihre „Narrative“ der Öffentlichkeit zu vermitteln. Da reicht es schon, die jeweiligen Troll-Armeen zu mobilisieren, um die eigene Delegitimierung durch die Aufdeckung eigenen Versagens zu verhindern.

Brandts Rücktritt ereignete sich in einer Übergangszeit, wenn das damals auch kaum jemand wahrnahm. Die goldenen Jahre des Wirtschaftswunders gehörten der Vergangenheit an. Ab 1975 bestimmten Weltwirtschaftskrisen sowie der kulturelle und technologische Wandel die Politik in den Industriegesellschaften, 1989 fiel die Berliner Mauer, und zwei Jahre später kollabierte die einst stolze Sowjetunion.

Was ist heute die wichtigste Erkenntnis? Es gab keinen begnadeten Strippenzieher, der Brandt mit Guillaumes Hilfe stürzte. Es führte häufig der Zufall Regie, es gab Fehleinschätzungen, konkurrierende politische Kalküle und die unberechenbaren menschlichen Eigenschaften, vom Mitgefühl über die Dummheit bis zur Bosheit. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Wir Zuschauer müssen nur genauer hinsehen.

 

Teil 1 des Beitrags von Frank Lübberding über den Rücktritt Willy Brandts finden Sie hier.

 

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