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Kolumne „Ein bisschen besser“

So zieht ihr euch selbst aus dem Sumpf

Bis über beide Ohren – ja, was eigentlich? „Steht dir das Wasser bis über beide Ohren, ist das unangenehmer, als wenn es dir bis zum Hals steht“, sage ich zu Judith, und wir stellen uns beide so ein Emoji vor, bei dem der gelbe Kopf oben flach rausguckt, während der Pullover an den Ohren klemmt. Beim Töchterchen passiert es manchmal, dass der dicke Lockenkopf nicht durch den Pulli passt. Sie kräht dann, und das klingt durch den Pulli wie ein Lachsack, der weint.

Judith und ich stecken gerade bis über beide Ohren in Arbeit. Aber wir krähen nicht. Es ist ja auch nicht so, als würden wir darin ertrinken. Nein, für uns ist das so eine Art Nährlösung: Du kannst drin schwimmen und kriegst kräftige Oberarme. Allerdings, wenn es dir bis über beide Ohren geht, drohst du abzusaufen. „Ein bisschen besser ist es, die Arbeit steht dir nur bis zum Hals“, sagt meine Frau.

Tauben kacken, Martinshörner jaulen, aber der Kaffee ist warm

Wir sitzen an diesem sonnigen Herbstwochenendnachmittag auf dem Balkon, der zum Hinterhof des Hauses mitten in der großen Stadt hinausragt. Der Kaffee auf dem kleinen Blechtischchen ist warm. Familie Pochanke, die vielleicht anders heißt, hat gegenüber die karierten Küchenhandtücher rausgehängt. Achmed, der wahrscheinlich auch anders heißt, pustet mit dem Laubbläser die gelben Blätter der Pappel im Hof von links nach rechts.

Tauben kacken, Martinshörner jaulen, Deutschland steckt bis über beide Ohren in der Krise. Aber wir ziehen uns am eigenen Schopf aus dem Sumpf, was physikalisch unmöglich ist, ansonsten aber natürlich machbar. „Ich könnte jetzt auch zum schönen Haus in unserem italienischen Dörfchen fahren und dort nur bis zu den Knöcheln in Arbeit stecken“, denke ich still und lasse den unausgesprochenen Gedanken hinüber zu Judith wehen.

Bis über beide Ohren

Ein Lächeln huscht über ihr schönes Gesicht. Wir sind uns einig: In fünf Tagen werden wir durch die Nacht nach Italien brausen, auf der Rückbank werden die Kinder schlafen und die Hündin sich ein Nest im Kofferraum drehen. Der große Wagen wird zufrieden brummen, und das Radio leise dudeln. Judith wird dösen. Und ich werde am Steuer sitzen und zu ihr hinüberschauen. 

Ich habe mir schon zurechtgelegt, was ich sagen werde, wenn sie aufwacht, wobei ich gerade noch übe, das „r“ südländisch zu rollen: „Testa e capelli in amore“. Manche übersetzen das mit „bis über beide Ohren verliebt“.

 

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