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Kolumne „Ein bisschen besser“

Wie der Mittelpunkt der Welt möglicherweise aussieht

Aus Tagen sind Wochen geworden, aus Wochen bald Monate. Irgendwann, als der Sommer in Italien einzog, haben wir aufgehört die Zeit zu zählen, weil sie ruhig dahingeflossen ist, und weil die Kirchturmuhr das für uns übernahm. Ding-Dong. Wir haben aufgehört aufs Wetter zu achten, weil die Sonne im Abonnement vom Himmel lachte. 

Wir waren eingetaucht, schwammen mit, ließen uns treiben. Wir haben den großen alten Kasten, der unser Haus hier oben über dem blauglitzernden See ist, gründlich benutzt. Wir haben die Welt erklärt, gestritten, gekocht und Kuchen verbrannt. Wir haben geputzt, verschmutzt, wir haben gedacht, gelacht, nach Schweiß gestunken, waren vom Wein betrunken. Wir sind ins Wasser gesprungen und haben den Mond besungen. „Judith“, sage ich, „es ist ein bisschen besser, wir gingen hier nicht mehr weg“.

Warum ich meine Frau manchmal „Donnerstag“ nenne

Meine Frau sitzt auf der kleinen Treppe, die von der Küche in den Garten führt. Sie nickt versonnen: „Es ist nicht der Mittelpunkt der Welt. Aber vielleicht unserer“, sagt sie. „Wo wir sind, ist der Mittelpunkt der Welt“, erkläre ich frohgemut. Ich denke an Jules Vernes „Reise zum Mittelpunkt der Erde“, die zu meinem Großwerden beitrug. 

Neben Winnetou III, wo er stirbt, und ich mir immer vorstellte, wie traurig es doch wäre, wenn ich mal stürbe. Neben Robinson Crusoe, der seinen eingeborenen Freund nach dem Wochentag, an der er ihn kennenlernte, „Freitag“ taufte, weswegen ich Judith manchmal ganz still und zärtlich „Donnerstag“ nenne. 

Was wir diesen Sommer gelernt haben

Bei Jules Verne steigt der Hamburger Professor Otto Lidenbrock in Island in den Krater eines Vulkans und flutscht ein paar Wochen später hier nebenan in Italien aus einem anderen wieder heraus. Der unverzagte Professor auf dem Gruseltrip zum Erdmittelpunkt – von ihm wollte ich auch etwas haben. „Gestatten: Winnetou Robinson Lidenbrock mein Name“, rufe ich Judith zu und warte, was passiert.

Aber es passiert nichts. Sie sitzt auf dem Treppchen. Die Zeit läuft unbeirrt dahin, die Sonne scheint heiß, noch besingen wir längst nicht den Mond. Der Mittelpunkt der Welt ist vermutlich ein sehr ruhiges Fleckchen. Da wollen wir hin. Das haben wir in diesem Sommer 24 in Italien gelernt. Ding Dong.

 

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