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Fanal in Frankreich

„Freiheit zur Abtreibung“: Wie kam es dazu?

Internationaler Frauentag in Frankreich. Am achten März versammelten sich Hunderte französische Bürger, Politiker aller Parteien, Verbände sowie Künstler auf dem schicken Place Vendôme in Paris. In einem gemeinsamen Jubel feierten alle mit dem Präsidenten der Republik Emmanuel Macron und seinem Justizminister Éric Dupont-Moretti die Aufnahme der Abtreibung in die Verfassung. Der Staatschef begrüßte – mit einem Hauch von Melodramatik – einen Sieg für die Freiheit der Frauen, der „aus einem langen Kampf voller Tränen, Dramen und zerstörter Schicksale“ hervorgegangen sei.

Für den französischen Präsidenten hatte der Kampf am achten März 2023 begonnen, genau ein Jahr vor der Verankerung in der Verfassung, als Reaktion auf die Entscheidung des Obersten Gerichtshofs der Vereinigten Staaten, den föderalen Schutz des Rechts auf Abtreibung aufzuheben. Die Aufhebung des Urteils „Roe v. Wade führte in Frankreich zu einer umfassenden politischen Mobilisierung, gestärkt durch eine Welle von Angst, dass das Abtreibungsrecht in Frankreich abgeschafft werden könnte. 

Obwohl das Thema schnell von der Linken aufgegriffen wurde (die grüne Senatorin Mélanie Vogel reichte bereits im Oktober 2022 einen ersten Gesetzesvorschlag ein), wurde die Verankerung der Abtreibung in der Verfassung von einer großen Mehrheit der französischen Politiker aller Parteien unterstützt.

Vom „Recht“ zur „Freiheit“

Dies ist nicht das erste Mal in Frankreich, dass Parlamentarier vorschlugen, das Recht auf Schwangerschaftsabbruch in der Verfassung zu verankern. Bisher wurden solche Gesetzesvorschläge jedoch immer abgelehnt. Im Oktober 2022 verloren die Grünen im Senat (das französische Parlament besteht aus zwei Kammern: der Nationalversammlung und dem Senat) knapp eine Abstimmung mit 172 Stimmen von 348. Nur wenige Wochen später stimmten jedoch die Abgeordneten der Nationalversammlung dem Text, der das „Recht auf Abtreibung schützen sollte, weitgehend zu. Damit begannen die parlamentarischen Verhandlungen. Auf beiden Seiten organisierten sich Befürworter und Gegner und versuchten, die Abgeordneten und Senatoren davon zu überzeugen, sich auf einen Text zu einigen – oder ihn abzulehnen.

Im Februar 2023 wagte der konservative Senator und frühere Familienminister Philippe Bas (Les Républicains) ein politisches Manöver, um Rechte und Linke in dieser Frage zu vereinen. Er schlug einen Änderungsantrag vor, in dem er die Formulierung im ersten abgelehnten Gesetz „das Gesetz gewährleistet die Wirksamkeit und den gleichen Zugang zum Recht auf Schwangerschaftsabbruch durch „das Gesetz bestimmt die Bedingungen, unter denen die Freiheit der Frau zur Beendigung ihrer Schwangerschaft ausgeübt wird ersetzte.

Somit ist nicht mehr die Rede von einem „Recht, sondern von „Freiheit. Während die linken Parlamentarier im Saal befürchteten, dass ihr Vorschlag abgeschwächt wird, stimmte die Mehrheit der Abgeordneten und später auch der Senatoren für den Vorschlag von Philippe Bas.

Der Entwurf des Textes wurde somit genehmigt. Nun musste er nur noch in die Verfassung aufgenommen werden. Dafür sieht das französische Recht zwei Möglichkeiten vor: eine durch eine Volksabstimmung, die andere durch eine Abstimmung von Abgeordneten und Senatoren des Kongresses im Schloss von Versailles. Diese letztere Option wurde von Emmanuel Macron gewählt. Um angenommen zu werden, muss dem Änderungsprojekt der Verfassung von drei Fünfteln der Parlamentarier, also 555 Stimmen, zugestimmt werden.

Druck von den Frauen

Kurz vor der ersten entscheidenden Abstimmung der Abgeordneten der Nationalversammlung (ohne Senat) am 30. Januar 2024 haben die politischen Manöver wieder zugenommen. „Sie können sich nicht vorstellen, welchem Druck wir von allen Seiten ausgesetzt sind, sagte ein Gegner des Gesetzentwurfs. Mehrere Abgeordnete und Senatoren gaben offen zu, ihre Meinung geändert zu haben, nachdem sie mit ihrem weiblichen Umfeld gesprochen hatten. Einige behaupteten sogar, dass ihre Töchter, die oft Teenager oder in ihren Zwanzigern sind, sie sogar „verleugnen würden, wenn sie nicht für die Verfassungsänderung stimmen würden.

Neben diesen fast anekdotischen Aspekten zeigen die Vorgänge eigentlich mehrere grundlegende Trends in der französischen Gesellschaft auf. In Frankreich wurden 2022 bei einer Einwohnerzahl von 68 Millionen rund 234.000 Abtreibungen registriert, die höchste Zahl seit den 1990er Jahren. Laut einer Umfrage von 2022 (IFOP) sind fast 80 Prozent der Bürger der Meinung, dass Frauen frei und ohne rechtliche Einschränkungen abtreiben dürfen sollten. Es ist ein ähnlicher Anteil wie diejenigen, die die Verankerung der Abtreibung in dem Gründungstext der Französischen Republik von 1958 befürworteten.

Wenn man die Umfragebeteiligten analysiert, die die Verankerung der Abtreibung in der Verfassung wünschen, sind alle Altersgruppen zu 80 Prozent vertreten; Frauen haben sich etwas zahlreicher als Männer dafür ausgesprochen; Arbeiter sind weniger begeistert als Mittelständler, aber insgesamt wird die ausgleichende Haltung von den Franzosen weitgehend geteilt.

Muslime sind am stärksten gegen die Entscheidung

Dennoch gibt es zwei Punkte, die leichte Meinungsverschiedenheiten zeigen. Muslime sind am stärksten dagegen (48 Prozent, gegenüber nur 18 Prozent der Katholiken und 17 Prozent der Konfessionslosen). Anhänger der Grünen sind am stärksten dafür (91 Prozent), gefolgt von den Wählern von Macron (Liberale) und Jean-Luc Mélenchon (radikale Linke) mit etwa 85 Prozent. Direkt dahinter sind es nicht die Anhänger der liberalen Rechten, sondern die von Marine Le Pen (radikale Rechte), die zu 80 Prozent die Verankerung der Freiheit zur Abtreibung in der Verfassung als „gut betrachten. Nur unter den Anhängern der traditionellen radikalen Rechten von Éric Zemmour liegt die Zustimmung bei unter 60 Prozent.

Kampf gegen alte Dämonen

Es stellt sich die Frage, warum sich die radikale Rechte nicht gegen einen solchen Gesetzentwurf gestellt hat. Der erste Grund ist, dass sie nicht prinzipiell gegen die Verankerung der Freiheit zur Abtreibung in der Verfassung ist. Marine Le Pen, Vorsitzende des Rassemblement National, hat nach langem Zögern ihren Segen zur Verankerung in der Verfassung gegeben.

Damit vertreibt sie noch einmal die alten Dämonen, die ihr drei Jahre vor der Präsidentschaftswahl noch immer im Wege stehen. In den vergangenen zehn Jahren hat die Partei eine „Entdiabolisierung vorgenommen, um sich von dem schmierigen und hartnäckigen Bild der „Nazi-Lehrlinge zu distanzieren. Daraus hat Marine Le Pen nie ein Geheimnis gemacht. Gesellschaftspolitische Anliegen sind ein bevorzugtes Mittel, um sich zu liberalisieren und weniger streng sowie „offener zu erscheinen – und damit bei den nächsten Wahlen einige Stimmen hinzuzugewinnen.

Die Politiker der Rechten sowie deren Wähler sind noch immer stark geprägt von dem Scheitern ihrer massiven Mobilisierung im Vorfeld des 2013 beschlossenen Gesetzes zur Einführung der gleichgeschlechtlichen Ehe. Für viele sind gesellschaftspolitische Themen wie die aktuelle Debatte über die Legalisierung der Sterbehilfe in Frankreich praktisch ein rotes Tuch, aus Angst davor, als „rückständig eingestuft zu werden.

Europäische Ambitionen

Einige Wochen vor den Wahlen zum EU-Parlament richtet nicht nur die radikale Rechte ihren Blick auf gesellschaftliche Fragen. Emmanuel Macron, dessen Partei in den Wahlumfragen hinter dem Kandidaten des Rassemblement National, Jordan Bardella, zurückliegt, strebt danach, sich als Vorreiter des europäischen Fortschritts zu etablieren. Diese Ambition hatte er bereits 2018 bei den letzten EU-Wahlen deutlich gemacht. Die Aufnahme der Abtreibung in die Verfassung könnte ihm dabei sehr nützlich sein.

Schon am achten März des vergangenen Jahres kündigte er an, dass er dies auch in die Charta der Grundrechte der Europäischen Union aufnehmen wolle, damit „dieses Recht universell und wirksam wird. Es wird sich zeigen, ob die anderen europäischen Staaten ebenso nachgiebig und gefügig sein werden wie die französischen Parlamentarier.

 

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Kommentare

Kommentar
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Alsace
Vor 7 Monate 4 Wochen

Mein Leben lang meinte ich, dass "rechts" die Alternative zu "links" sei. Nun erkenne ich meinen Irrtum. Es gibt die Wahrheit des katholischen Glaubens und unzählige Abirrungen davon…

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Alsace
Vor 7 Monate 4 Wochen

Mein Leben lang meinte ich, dass "rechts" die Alternative zu "links" sei. Nun erkenne ich meinen Irrtum. Es gibt die Wahrheit des katholischen Glaubens und unzählige Abirrungen davon…