Die da harren der Gerechtigkeit
Im Frühling und Herbst 1999 verschwanden im weißrussischen Minsk, zwei Jahre vor den offiziellen Präsidentenwahlen, spurlos drei Männer, die sich in der demokratischen Opposition engagierten: Ex-Innenminister Jurij Zacharenko, der Chef der Zentralen Wahlkommission Wiktor Gontschar sowie der Verleger, Publizist und Mäzen Anatolij Krasowskij. Zwanzig Jahre lang wusste die Öffentlichkeit nicht sicher, was mit ihnen geschehen ist. Früh gab es Hinweise, sie seien von einer Sondereinheit auf Befehl der Staatsspitze gekidnappt und ermordet wurden. Doch beweisen ließ sich nichts. Keine Leichen, keine Beteiligten. Die Verschwundenen wurden auch nicht für tot erklärt.
Ein ehemaliges Mitglied der Schnellen Eingreiftruppe SOBR, einer Spezialeinheit der Truppen des Inneren, ist jetzt in der Schweiz von einem Gericht freigesprochen worden. Das Kreisgericht Rorschach im Kanton St. Gallen sah es nicht als erwiesen an, dass dieser als Soldat der Formation 1999 im Auftrag der Regierung drei Regimekritiker beseitigen half. Der im Fokus stehende Machthaber von Belarus Alexander Lukaschenko darf sich durch den Freispruch bestätigt sehen. Das Regime in Minsk hatte stets jede Beteiligung an dem Verschwinden der drei Männer und weiterer Personen bestritten. Die Staatsanwaltschaft hatte drei Jahre Haft beantragt, zwei davon zur Bewährung.
Der jetzt freigesprochene Jurij Garawskij war 2018 unter merkwürdigen Umständen in die Schweiz gelangt und hatte sich um politisches Asyl beworben. Bei einer Befragung Anfang 2019 durch Beamte des Staatssekretariats für Migration in Zürich bezichtigte er sich erstmals der Mittäterschaft. Die drei Verschwundenen seien tot. Er wisse das, weil er an deren Entführung und Exekution beteiligt gewesen sei, er sei der Stellvertreter des Brigadekommandeurs gewesen. (Ein Ausschnitt aus einem SOBR-Imagefilm von 1999 zeigt Garawskij in der Rolle eines bewaffneten Banditen.)
Einzigartige Anklage wegen Verschwindenlassens
Im Dezember 2019 wandte er sich an die Deutsche Welle und erzählte seine Geschichte exklusiv vor der Kamera. Menschenrechtsorganisationen, darunter die traditionsreiche belarussische „Wjasna“ (Frühling), ermittelten Garawskijs Aufenthaltsort im Kanton St. Gallen und gingen zur Polizei. Die Staatsanwaltschaft St. Gallen klagte den Weißrussen nach dem Weltrechtsprinzip wegen „Verschwindenlassens“ von Personen an. Die Uno-Konvention zum Schutz vor Verschwindenlassen haben seit 2010 fast hundert Staaten unterzeichnet, darunter 2015 auch die Schweiz. Sie soll möglich machen, das Verbrechen, zusammen mit Völkermord, Folter, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen, überall in der Welt strafrechtlich zu verfolgen. In der Schweiz waren die neuen Bestimmungen bisher noch nie angewandt worden.
Wegen der politischen Brisanz war der Prozess gegen Garawskij mit Spannung erwartet worden. Auch weißrussische Exilmedien hatten breit über den zweitägigen Prozess in der vergangenen Woche berichtet. Das Kreisgericht Rorschach hat heute jedoch ein für Beobachter, Menschenrechtler und nicht zuletzt die Hinterbliebenen der Opfer ernüchterndes Urteil gefällt. Wäre Garawskij der Beteiligung am Verschwindenlassen schuldig gesprochen worden, hätte damit ein Gericht weltweit erstmalig indirekt festgestellt, dass das Lukaschenko-Regime Oppositionelle entführen und ermorden lässt.
Nach Informationen des belarussischen Portals Novychas.online, das mit Korrespondenten vor Ort war, werden die von den Angehörigen von Jurij Zacharenko und Anatolij Krasowskij eingereichten Zivilklagen an ein anderes Gericht weitergeleitet.
Verdächtiger auf Befehl des Präsidenten freigelassen
Bereits zu Beginn der 2000er-Jahre erschienen in den damals noch existierenden unabhängigen belarussischen Medien eine Reihe wichtiger Dokumente und Belege, die auf eine mögliche Verwicklung des ehemaligen Chefs des Sicherheitsrates und Lukaschenko-Vertrauten Wiktor Schejman, des damaligen Innenministers Jurij Siwakow sowie SOBR-Befehlshabers Dmitrij Pawlitschenko in die Entführungen hinwiesen. Die Ermittler fanden eine Fährte. Im November 2000 bekommt Innenminister Wladimir Naumow einen Bericht auf den Tisch, der feststellt, dass sein Amtsvorgänger von Schejman den Befehl erhalten habe, den in Ungnade gefallenen Ex-Innenminister Zacharenko physisch zu vernichten. Das Ungeheuerliche durchzuführen habe Pawlitschenkos Sondereinheit. Später soll Pawlitschenko auch mit der Liquidierung des geschassten Wahlleiters Gontschar und dessen Freund Krasowskij betraut worden sein.
Der SOBR-Kommandeur wird wegen Mordverdachts verhaftet und verhört. Der Generalstaatsanwalt wendet sich an Lukaschenko und bittet um Erlaubnis, auch Schejman festnehmen zu dürfen. Der geht darauf nicht ein, bestellt vielmehr den beim KGB einsitzenden Pawlitschenko in seinen Amtssitz. Er kann ihn als freier Mann verlassen. Lukaschenko setzt den bisherigen Chefankläger ab und macht den Bock zum Gärtner: Hauptverdächtiger Schejman wird Generalstaatsanwalt und für viele Jahre der zweite Mann im Staat. Der jetzt freigesprochene Garawskij hatte ausgesagt, sein Chef Pawlitschenko sei damals triumphierend aus dem Hintereingang der Präsidialverwaltung herausgekommen, die gegen ihn angelegten Ermittlungsakten in der Hand.
2001 flohen zwei frühere Ermittler der weißrussischen Staatsanwaltschaft in die USA. Oleg Slutschek und Dmitrij Petruschkewitsch bestätigten das schon Bekannte. Innerhalb der belarussischen Geheimdienste gebe es eine Todesschwadron, deren inoffizielle Aufgabe die Tötung von Gegnern Lukaschenkos sei, berichteten sie gegenüber der Presse. Verantwortlich sei neben Ex-Sicherheitschef Schejman auch Ex-Innenminister Siwakow, und die von Schejman gegründete Sonderheit stecke hinter dem Verschwinden der drei Oppositionellen.
Trotz Torpedierung jeglicher Ermittlungen gelangte 2004 auch der Sonderberichterstatter der Parlamentarischen Versammlung des Europarates (PACE), Christos Pourgourides, zu dem gleichen Schluss.
Wie ein Museum des Kommunismus
Dann sind da noch die Angaben von Oleg Alkajew, dem mehrjährigen obersten Henker der Republik. Als Natschalnik des Minsker Untersuchungsgefängnisses Nr. 1, der berüchtigten „Wolodarka“ und Gegenstück zur Moskauer Butyrka, war Alkajew für die Vollstreckung der Todesstrafe zuständig. Sie wird in Weißrussland durch Erschießen vollstreckt, und nur an diesem Ort – jedenfalls, sofern alles nach den Gesetzen geht. Alkajew vollstreckte sie 134 Mal. Die Pistole für die Hinrichtung sei 1999 auf Befehl von oben zweimal ausgeliehen worden, jeweils wenige Tage, bevor die drei Oppositionellen verschwanden. Im Anschluss wurde sie wieder zurückgebracht.
Haben etwa „Verräter“ ein geheimes Todesurteil erhalten und wurden deswegen mit der Pistole für die Vollstreckung der Todesstrafe hingerichtet? Alkajew setzte sich nach Veröffentlichung dieser Erinnerungen nach Deutschland ab und erhielt Asyl. Er beschuldigte Machthaber Lukaschenko, hinter den Mordaufträgen zu stecken. „Ich bin davon überzeugt, dass er davon wusste“, zitierte ihn die Welt. Vor einem Jahr starb Alkajew.
Wer aber waren die prominenten Regimekritiker? In Deutschland sind sie wenig bekannt, aber ihr Andenken ist in Belarus lebendig geblieben. Ende der neunziger Jahre wirkte die Ex-Sowjetrepublik, ganz anders als die baltischen Länder oder Polen, noch immer wie ein Museum des Kommunismus. Dass etwas mit diesem Land nicht stimmte, bemerkte man daran, dass in den Buchhandlungen und Kaufhäusern Plakate mit dem Porträt des Präsidenten zu kaufen waren und die staatliche Post eine Briefmarke mit dessen Konterfei in Umlauf brachte. Ein Land, in dem es üblich wurde, öffentliche Versammlungen durch prügelnde OMON-Einheiten auseinandertreiben zu lassen. Ein Land, wo das Zeigen der noch kurz zuvor offiziellen weißrotweißen Staatsflagge als „Verwenden nichtregistrierter Symbole“ kriminalisiert wurde. Auf dem Prachtboulevard der Hauptstadt Minsk steht bis heute eine Büste des Tscheka-Gründers Feliks Dzierżyński, gegenüber dem Sitz des weißrussischen KGB.
Mitte 1994 wird der Polizeioffizier Jurij Zacharenko Innenminister im ersten Kabinett von Lukaschenko, der im Juli zum ersten Mal zum Präsidenten gewählt wird. Es ist die Zeit des demokratischen wie religiösen Aufbruchs und hoher Erwartungen, aber auch der Wirtschaftskrise, Hyperinflation, Massenverarmung und beginnender Sowjetnostalgie – Schlüsseljahre, deren Weichenstellungen bis in die unmittelbare Gegenwart wirken.
Im Gegensatz zu den baltischen Nationen konnten die Bürger zwischen Brest und Orscha mit der belarussischen Unabhängigkeit nach dem Zerfall der Sowjetunion zunächst wenig anfangen. Anders als in der Ukraine war die Unabhängigkeit nicht durch eine Volksabstimmung bestätigt, und anders als in der Ukraine war das Nationalbewusstsein in der Breite gering ausgebildet, Resultat der jahrhundertelangen imperialen Unterdrückung durch Russland. Die Vorherrschaft der sowjetischen Nomenklatura blieb weitgehend ungebrochen, das Land lehnte sich nach wie vor eng an Moskau an. Eine demokratische Tradition gab es nicht, ein gerissener Demagoge mit KGB-Hintergrund wie Lukaschenko hatte leichtes Spiel.
Zacharenko, der als hochrangiger Ermittler im Innenministerium arbeitete, zählte zunächst zu Lukaschenkos Unterstützern. Nach dessen Wahl gingen ihm die Augen auf, und er wandte sich der Opposition zu. Als Präsident Lukaschenko in der Folge durch zwei umstrittene Referenden und mit Rückendeckung Russlands die Verfassung zu seinen Gunsten manipulierte, 1996 mit Gewalt das Parlament auflöste und die Gewaltenteilung abschaffte, blieb Zacharenko nicht tatenlos an der Seitenlinie, sondern versuchte die junge belarussische Demokratie zu retten.
Aus dem Ministerium entlassen und degradiert, schloss Zacharenko sich der Opposition an und wurde zu einem ihrer einflussreichsten Köpfe, der Menschen zusammenbringen konnte. Als Vorsitzender der Vereinigten Bürgerpartei nahm er so gut wie an allen öffentlichen Versammlungen, Märschen und Demonstrationen gegen den Polizeistaat und die aufkommende Diktatur teil. Als Mann aus dem Sicherheitsapparat und wegen seines Rückhalts unter den Spitzenoffizieren der Armee wie des belarussischen KGB wurde er für Lukaschenko zu einem gefährlichen Gegner – und möglicherweise auch zu einem ernstzunehmenden Konkurrenten bei den Präsidentschaftswahlen, die gemäß der Vor-Lukaschenko-Verfassung 1999 hätten stattfinden müssen und deren Durchführung die Opposition vorbereitete.
Im Zuge der Ausschaltung jeglicher Initiativen aus der Zivilgesellschaft liquidierte das Regime die Vereinigte Bürgerpartei am 15. August 2023 durch Beschluss des Obersten Gerichts in Minsk. Die Partei unter ihrem langjährigen Vorsitzenden Anatolji Lebedko unterhielt Beziehungen zur Europäischen Volkspartei (EVP) und gehörte zu deren Parteien mit Beobachterstatus.
1996 saß Zacharenko für den Dokumentarfilm „Ein gewöhnlicher Präsident“ vor der Kamera von Regisseur Jurij Chaschtschewatzkij. Die dort aufgezeichneten Worte Zacharenkos waren prophetisch und gaben ein frühes Zeugnis des diktatorischen Regierungsstils des ehemaligen Sowchos-Direktors und jetzigen „Agro-Führers“ Lukaschenko. Sie sind heute weithin bekannt und als Shorts bei Youtube in Umlauf:
„Der Präsident sagt: ‘Du musst einen jedweden meiner Befehle befolgen!’ Ich sage zu ihm: ‘Alexander Grigorjewitsch, auf Menschen werde ich nicht schießen, die Verfassung werde ich nicht verletzen.’ ‘Wenn du nicht einen jeden meiner Befehle befolgst, wird man dir Handschellen anlegen.’ – Ist das Angst einjagen oder nicht? Das ist der Herrschaftsstil des Präsidenten. Die Schwächeren brechen zusammen, die Stärkeren werden aus dem Weg geräumt. Und es entsteht eine willfährige Staatsmaschinerie, die gedankenlos die Hacken zusammenschlägt. Das ist furchtbar. Das ist schrecklicher als Faschismus.“
Zacharenko weiter: Lukaschenko sei „betrunken von der Macht“: „Er ist betrunken von dem Wunsch, die absolute Macht zu ergreifen. Und dafür, zu der Überzeugung bin ich gekommen, ist ihm jede Methode und jedes Mittel recht.“
„Mama, wenn ich sterbe, dann nur durch Lukaschenko“
Dann ein Schock: Am 6. April 1999 stirbt der beliebte Vize-Sprecher des auseinandergetriebenen Parlaments Gennadij Karpenko 49-jährig an den Folgen eines Schlaganfalls, nachdem er von Krankenhaus zu Krankenhaus verlegt worden war. An eine natürliche Todesursache wollen weder seine Hinterbliebenen noch die Mitstreiter aus der Bürgerpartei glauben. Bei einer Begegnung sei er von Leuten auf einen Kaffee eingeladen worden, woraufhin er einen Schlaganfall erlitt. Währenddessen wurde seine Wohnung aufgebrochen und durchsucht. Das belastende Material zu finanziellen Machenschaften des Präsidenten – weg. Auf der Trauerfeier ergriff Karpenkos enger Berater Zacharenko das Wort: „Wir werden noch nicht nach Kuropaty gebracht. Die besten Leute verunglücken bei uns ‘zufällig’ bei Autounfällen. Unsere Antwort an das Regime muss lauten: Wir werden bis zum Ende gehen!“
Schon nach Zacharenkos Verschwinden sagte dessen Mutter gegenüber „Radio Swaboda“: Er sprach, ‘Mama, wenn ich sterbe, dann nur wegen ihm.’ Das meinte durch Lukaschenko.“
Am späten Abend des 7. Mai 1999 wurde Zacharenko auf dem Nachhauseweg unweit seiner Wohnung in Minsk gewaltsam entführt. Zeugen – die Gegend voll riesiger Wohnblocks ist dichtbesiedelt – zeigten bei der Polizei an, der Politiker sei von mehreren Männern in ein Auto gestoßen und in unbekannte Richtung weggebracht worden. Einer davon will Jurij Garawskij gewesen sein. „Ich bin gleich da, mach schon mal das Essen warm“: Diese Worte sind in den Medien als Zacharenkos letzte an seine Frau überliefert, gesprochen über das Handy, nachdem Zacharenko das Auto abgestellt hatte. „Macht es so, dass es nicht wehtut“, habe der Ex-Innenminister laut Garawskij zu seinen Entführern gesagt; aber das ist Täterwissen.
Unmittelbar danach soll Zacharenko auf einem Truppenübungsplatz außerhalb der Hauptstadt von Pawlitschenko mit zwei Schüssen umgebracht worden sein. Das erzählte Garawskij gegenüber der Deutschen Welle. Ganz entgegen früherer Aussagen in den Medien und gegenüber den Ermittlern bestritt Garawskji im Prozess vehement, Pawlitschenko die Waffe überreicht zu haben, der Kommandeur habe die Pistole selbst aus dem Handschuhfach hervorgeholt. Zacharenkos Leichnam wurde im Anschluss im Krematorium des Nordfriedhofs von Minsk eingeäschert. So schilderte es der Ex-SOBR-Kämpfer.
Wahlleiter kurz vor Referendum kaltgestellt
Der Jurist und Abgeordnete Wiktor Gontschar wiederum war kurzzeitig Vizepremier im Kabinett Lukaschenko, bevor auch er sich der Vereinigten Bürgerpartei anschloss. Während des nach Auffassung der Opposition unrechtmäßigen Verfassungsreferendums von November 1996 stellte Gontschar sich sowohl als Vorsitzender der Zentralen Wahlkommission wie auch als Vizepräsident des Parlaments entschieden gegen den nach Autokratie strebenden Präsidenten und weigerte sich, die Ergebnisse der Volksabstimmung anzuerkennen. Am Vorabend des Urnengangs setzte Lukaschenko ihn bar jeder Rechtsgrundlage als Chef der Wahlkommission ab, indem Uniformierte den Zugang zu seinen Amtsräumen blockierten.
Ersetzt wurde er durch die gefügige Lidija Jermoschina. Diese machte bei der Auszählung ihre Sache aus Sicht des Präsidenten so gut, dass Jermoschina ein Vierteljahrhundert lang Wahlergebnisse auf Bestellung fabrizieren durfte. Aus fünf Direktwahlen ließ sie Lukaschenko als strahlenden Sieger hervorgehen und nie unter 75 Prozent Zustimmung fallen. „Es ist nicht wichtig, wie die Stimmen abgegeben, sondern wie sie gezählt werden“ – nirgendwo in Europa hat das geflügelte Wort aus Sowjetzeiten je wieder so gepasst wie auf Jermoschinas Grundsätze der Amtsführung. Mit den 80,1 Prozent für Lukaschenko im August 2020 freilich überspannte sie den Bogen. Aber das ist eine andere Geschichte.
Zusammen mit Abgeordnetenkollegen des rechtmäßigen Parlaments versuchte Gontschar, ein Amtsenthebungsverfahren gegen Lukaschenko einzuleiten und bereitete Dokumente vor, die genau belegen sollten, dass und wie der Präsident die Macht usurpierte. „Man muss extreme Maßnahmen ergreifen, sogar Opfer bringen und seine Gesundheit opfern. Leider sind das die politischen Realitäten in Belarus“, sagte Gontschar einmal vor Filmkameras. Am 1. März 1999 wurde der 40-jährige kurzzeitig inhaftiert, ein Sondereinsatzkommando zerschlug für die Festnahme die Seitenscheibe seines Autos und riss ihn aus dem Fahrzeug. Nach einer Woche Gefängnis mit Folter und Hungerstreik wurde er halbtot entlassen. Das berichtete sein Rechtsbeistand, der bekannte Menschenrechtsanwalt Oleg Woltschek, der 1998 mit Kollegen in Minsk das Beratungszentrum „Rechtshilfe für die Bevölkerung“ gründete.
Opposition bereitet Präsidentschaftswahlen im Untergrund vor
Die Spannungen stiegen, als bekannt wurde, dass Mitglieder des geschassten Parlaments für den 16. Mai 1999 Präsidentschaftswahlen abhalten wollen; getreu der Verfassung von 1994, nach der die Amtszeit Lukaschenkos am 20. Juli endete. Zum Leiter der alternativen Wahlkommission bestellte der Oberste Sowjet Wiktor Gontschar. Das war nur logisch, denn Gontschar war formal im Amt. Er sollte den neuen Urnengang organisieren und durchführen. Was freilich misslang.
Damals noch möglich: Am 21. Juli kippte der Künstler und Aktivist Ales Puschkin in weißen Handschuhen eine rote Schubkarre voller Mist vor der Präsidialverwaltung im Stadtzentrum von Minsk aus. Darauf warf er belarussische Rubelscheine, für die man nichts mehr kaufen konnte, ein Exemplar der verfälschten 1996er-Verfassung, die rot-grüne Staatsflagge, eine Plakette „Für fünf Jahre Arbeit“ sowie Handschellen, Attribute der Herrschaft Lukaschenkos. Ein darüber drapiertes Lukaschenko-Plakat durchstieß er effektvoll mit einer Mistgabel. „Ein Geschenk für den Präsidenten“ hieß die Performance. Puschkin wurde vorübergehend festgenommen.
Der nonkonformistische Kirchenmaler Puschkin starb im Juli dieses Jahres mit 57 an den Folgen politisch motivierter Haft in einem Krankenhaus in Grodno. Laut taz hatte ihn die Betreiberin eines prorussischen Telegram-Kanals für irgendetwas denunziert.
Dass Lukaschenko den Staat zum Instrument gegen die eigenen Bürger umfunktioniert, eine Diktatur etabliert – hätte das im Sommer 1999 noch verhindert werden können? Oder waren jegliche Demokratiebestrebungen in Minsk wegen der geopolitischen Interessen Russlands ohnehin zum Scheitern verurteilt? Gontschar wie auch Zacharenko werden rund um die Uhr beschattet, die Einheiten gaben sich keine Mühe, das zu verbergen. Für den 19. September plante Gontschar eine erweiterte Sitzung mit Abgeordneten des aufgelösten Parlaments, an der die Führer der Oppositionsparteien, der Gewerkschaften und Verbände teilnehmen sollten. Der Jurist wollte Beweise für die haarsträubenden Manipulationen bei dem Referendum präsentieren, einen konkreten Maßnahmeplan zur Entmachtung Lukaschenkos vorstellen und dafür die Vermittlung der OSZE gewinnen. Der Leiter von deren Berater- und Beobachtermission in Belarus war in jenen Jahren der Hamburger Diplomat Hans-Georg Wieck.
Lukaschenko rühmt sich außergerichtlicher Exekutionen
Zur öffentlichen Vorstellung der Beweise sollte es nicht mehr kommen. Nach dem Besuch einer Sauna in der Fabrikstraße 20a werden er und sein Freund Anatolij Krasowskij in den späten Abendstunden des 16. Septembers 1999 zuletzt gesehen, bevor beide in Krasowskijs Geländewagen wegfahren wollten. Der Geschäftsmann scheint ein Zufallsopfer gewesen zu sein, Gontschar hatte die Gewohnheit, immer zusammen mit Freunden die Sauna zu besuchen. Andererseits gibt es die Ansicht, dass das Verschwindenlassen von Krasowskij ein Signal an andere Unternehmer gewesen sein könnte, loyal zu sein, und Krasowskij war einer der prominentesten jener Jahre. Diese Frage äußerte dessen Tochter Walerija in einem Interview mit dem belarussischen Exilportal Zerkalo, das noch vor dem Urteil am Donnerstag geführt worden war.
Aber auch im Prozess gelang es nicht, diese quälende Frage aufzulösen. Nach Garawskijs Geständnis habe SOBR-Kommandeur Pawlitschenko gesagt, sie würden „einen oder zwei“ festnehmen. Gegenüber Medien hatte der Ex-Soldat indessen angegeben, Pawlitschenko habe zweier Männer habhaft werden wollen. Die Todesschwadron ermordete die beiden Oppositionellen dann auf die gleiche Weise wie zuvor den Ex-Innenminister. Nach dem Erschießen durch Pawlitschenko seien die Leichen auf einem Manöverplatz im Gebiet Witebsk nördlich von Minsk in eine zuvor ausgehobene Grube geworfen, die Kleider verbrannt worden.
Das Regime in Minsk hat stets bestritten, irgendetwas mit dem Verschwinden der drei Männer zu tun zu haben. Doch da gibt es noch zwei interessante Äußerungen von Machthaber Lukaschenko:
In einem Interview mit der unabhängigen russischen Plattform Echo Moskwy plauderte er am 24. Dezember 2019 aus, dass niemand außer ihm selbst den Befehl zur Entführung und Ermordung von Politikern geben könne, und er habe „in seinem Leben noch nie einen solchen Befehl gegeben“ und werde ihn auch jetzt nicht geben. Wozu habe er das nötig, und „was hat sich geändert, wenn zwei oder drei Menschen in Belarus tot sind“?
Und wenige Tage vor den gefälschten Präsidentschaftswahlen von August 2020 gab Lukaschenko in einer Rede vor der Nationalversammlung einen eigenwilligen Abriss seiner Amtszeit in den 90er-Jahren, in denen er für „Ordnung im Land“ gesorgt habe: Damals habe er außergerichtlich mit kriminellen Banden „aufgeräumt“ und „verlangt, dass man mir eine Liste der Banditen auf den Tisch legt und sie beseitigt“, sagte er am 4. August. „Allein Schejman und noch ein paar Männer, die mit Pistolen durch die Stadt liefen und fuhren, um den Abschaum zu vernichten. Und innerhalb eines halben Jahres haben wir Minsk von allen Banden gesäubert.“
Auch Garawskij hatte gegenüber Medien angegeben, seine Sondereinheit SOBR sei wöchentlich etwa ein Mal ausgerückt, Verbrecher festzunehmen.
Noch etwas Interessantes: Auf der Startseite jener Sondereinheit, chest.by, findet sich ein Zitat Lukaschenkos, geäußert im Oktober 2019, wie aus einer Veröffentlichung auf der offiziellen Seite des Präsidenten unter president.gov.by hervorgeht: „SOBR ist eine sehr gut ausgebildete Einheit. Ich weiß sehr gut, warum ich aktiv an ihrer Bildung mitgewirkt habe, als sie entstand.“
Zu den heute in Belarus eingesperrten Exponenten der niedergeschlagenen Protestbewegung gegen die Wahlfälschung von August 2020 gibt es nach Angaben der Angehörigen keinerlei Verbindung. Seit Monaten werde Maria Kolesnikowa, ihrem Anwalt Maxim Znak, Wiktor Babariko, Sergej Tichanowskij, Nikolaj Statkewitsch und vielen anderen der Kontakt zur Außenwelt verweigert. Das letzte Lebenszeichen zu Kolesnikowa habe man im Februar erhalten, sagte ihre Schwester Tatjana Chomitsch in einer auf Facebook veröffentlichten Videobotschaft vom 18. September.
Allein eingebürgerter Lesegewohnheit wegen sind sämtliche belarussischen Namen und Orte in diesem Text in der russischen Form wiedergegeben.
Kommentare