Der Gottsucher
Mit 96 Jahren, wahrhaft im biblischen Alter, verstarb Martin Walser am 26. Juli in Nußdorf bei Überlingen am Bodensee. Besonders in die fein gewebte Lyrik verliebt, taugte der bekennende Goethe-Verehrer zeitlebens nicht zum olympisch entrückten Klassiker der deutschen Literatur der Gegenwart. Dieser Schriftsteller ruhte einfach nicht in sich selbst.
In der medialen Wahrnehmung von Martin Walser blieb – und davon berichten die rasch nach seinem Tod publizierten Nachrufe – der Eindruck vorherrschend, dass der lange politisch engagierte Autor ständig im Mittelpunkt von großen Kontroversen gestanden habe. Der Deutschlandfunk berichtete an seinem Todestag, dass Walser in den 1970er Jahren als „Sympathisant der DKP“ gegolten habe und doch lange vor dem Mauerfall bekannt hätte, an Deutschlands Teilung zu leiden. Walser unterstützte zudem Willy Brandt im Wahlkampf und war ein leidenschaftlicher Gegner des Vietnamkrieges.
Eine Warnung an die politischen Wortführer der 1968er
Der Schriftsteller erregte Aufsehen, als er, promovierter Germanist und gelernter Journalist, der den Auschwitz-Prozess beobachtet hatte, 1998 beim Empfang des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels vor der Instrumentalisierung des Holocaust warnte.
Walser sagte damals: „Auschwitz eignet sich nicht dafür, Drohroutine zu werden, jederzeit einsetzbares Einschüchterungsmittel oder Moralkeule.“ Seine Äußerung war vor allem adressiert an die politischen Wortführer der 1968er-Generation, tief getroffen aber zeigte sich Ignatz Bubis, der damalige Präsident des Zentralrats der Juden. 2015 distanzierte sich Walser im Spiegel von dieser Rede.
Mit Ignatz Bubis, der Walser der „geistigen Brandstiftung“ geziehen hatte, hatte sich der Schriftsteller noch im Dezember 1998 versöhnt. Erinnert wird anlässlich von Walsers Tod in der Zeit auch an den Konflikt mit dem unvergessenen Literaturpapst Marcel Reich-Ranicki, der sich an dem Roman „Tod eines Kritikers“ im Jahr 2002 entzündet hatte.
Walsers übersehene religiöse Musikalität
Walsers bissige erzählerische Auseinandersetzung mit dem deutschen Literaturbetrieb nahmen viele Feuilletonisten, darunter etwa Frank Schirrmacher von der FAZ, ausgesprochen persönlich. Christoph Schröder bezeichnete Martin Walser in seinem Nachruf in der Zeit gleichsam summarisch als „Jahrhundertgestalt“, zu der das „Impulsive, Störrische und Unversöhnliche“ gehört habe.
Diese Debatten wurden – bei aller Würdigung von Werk und Person – in den Nachrufen erwähnt und bedacht. Doch wie vergessen blieb, buchstäblich übersehen wurde die religiöse Musikalität des sensiblen Literaten. Nicht nur ein reichhaltiges Werk an Erzählungen und Romanen hinterließ Walser – genannt seien sein 1957 erschienener Erstlingsroman „Ehen in Philippsburg“ sowie sein wohl bekanntestes Werk „Ein fliehendes Pferd“ von 1978. Walser vermochte auch versonnen-schwebend anmutende Verse zu schmieden und freimütig seine Liebe zum Lebensraum Bodensee einzugestehen.
Aus einem katholischen Elternhaus stammend war und blieb er im Innersten ein aufrichtiger Gottsucher. Dies spiegelt sich in einem Gedicht aus dem 2018 publizierten Lyrik-Band „Spätdienst“:
„Alleinsein hat keinen Ton,
lautlos wartet, wer allein ist,
sobald er Gott annimmt, singt er,
sich durchschauend, wird er stumm.“
Wiederkehrende Glaubensfragen und Zweifel
Wieder und wieder scheinen Glaubensfragen auf, Zweifel, tastende Überlegungen. Wer lautlos warte und allein sei, der singe, sobald er an Gott glaube. Glauben, das heißt – in Walsers Worten: wer Gott „annimmt“, versuchsweise, als nicht auszuschließende Möglichkeit. Doch der Singende verstummt, wenn er sich selbst reflektiert. Er grübelt, denkt sich hinein in die Glaubenslosigkeit.
Wie würde er wieder singen – nur gelingt ihm dies nicht mehr. Der einst glücklich singende Mensch hatte so gern geglaubt. Die intellektuelle Redlichkeit lässt ihn schweigen. Und Martin Walser? Er schweigt nicht, denn ihn lässt die Frage nach Gott nicht los. 2012 bereits hatte er in „Über Rechtfertigung, eine Versuchung“ geschrieben:
„Wenn ich von einem Atheisten, und sei es von einem ‘bekennenden’, höre, dass es Gott nicht gebe, fällt mir ein: Aber er fehlt. Mir.“
Atheismus: „Eine Vernichtung unserer Geistesgeschichte“
Walsers Unbehagen an Formen der oftmals in den Medien ironisch präsentierten Gottlosigkeit in der postmodernen Welt geht einher mit einer inständigen, wehmütig kolorierten Sehnsucht nach Gott.
Im Gespräch mit The European bekannte er: „An der Glaubensfrage kommen wir nie vorbei.“ Weiterhin führt Walser aus, dass ein Mensch, der über den Glauben nachdenke, nicht einfach ein in sich ruhender Atheist werden könne:
„Hinter uns liegen nun 2000 Jahre, die von der offenen Frage nach einem Gott geprägt sind. Die völlige Beruhigung im heutigen Atheismus, also auch von Intellektuellen, halte ich geradezu für eine Vernichtung unserer Geistesgeschichte.“
Nun mag erwogen werden: Ist es nicht eine Errungenschaft der Aufklärung, ein Triumphzug der Naturwissenschaften und ein unbestreitbarer Fortschritt in der Geschichte, dass es möglich geworden ist, einfach ohne Gott zu leben? Dürfen wir nicht ungeniert fröhliche Atheisten sein?
Eine existenzielle Frage bleibt unbeantwortet
Martin Walser scheute sich nicht, das intellektuelle Bekenntnis zur Emanzipation und Entfremdung von Gott zu verweigern. Wer den Glauben aus der Geschichte Europas streichen wolle, der behaupte zugleich, dass alle vor uns, die sich zu Gott bekannten, nicht bei Trost gewesen seien:
„Wir können doch nicht über 2000 Jahre lang die Gottesfrage so wichtig nehmen und dann zur Tagesordnung übergehen und behaupten, sie interessiere uns nicht.“
Darüber, wer Jesus Christus für ihn sei, hat Martin Walser nachgedacht, aber die Frage nicht beantwortet. Sie blieb ihm existenziell gegenwärtig.
In dem Band „Sprachlaub“ aus dem Jahr 2021 schenkt er dem Leser Einblicke in sein religiös musikalisches Denken: „Ich sehne mich und kann nicht sagen, wonach.“ Lebenssatt und todessehnsüchtig ist er nicht, aber der Endlichkeit gewärtig. Der 94-jährige Dichter schreibt, er suche „Hilfe beim Konjunktiv“ und ergänzt – „beziehungsweise bei Jesus“.
Für ihn ist die Frage nach Gott nun endgültig beantwortet. Manche gläubigen Christen könnten heute in großer Dankbarkeit für sein Lebenswerk hoffnungsvoll sagen: Martin Walser möge ruhen in Frieden.
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