Was steckt hinter den Angriffen auf Christen in Jerusalem?
Das Leben der Christen im Heiligen Land ist seit jeher nicht einfach. Vor allem das Zusammenleben mit Muslimen war und ist konfliktträchtig. Derzeit sorgen sich die christlichen Kirchen aber vor allem wegen der Zunahme von Angriffen jüdischer Extremisten auf Christen, Kirchen und andere christliche Stätten. Dabei ist Israel zu Recht stolz darauf, als einziger Staat im Nahen Osten wirkliche Religionsfreiheit zu praktizieren.
Nun trüben – keineswegs zum ersten Mal – ultra-orthodoxe Juden das Bild, die ihrer bekannten Feindseligkeit gegenüber Christen freien Lauf lassen. Sie fühlen sich offenbar ermutigt von Mitgliedern der neuen rechts-religiösen Regierung von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu.
Zur Einordnung der besorgniserregenden Vorfälle gehören aber auch israelische Sichtweisen, die immer wieder die Einäugigkeit christlicher Kirchen im biblischen Land beklagt haben. Probleme mit Menschenrechten und demokratischen Grundwerten würden in Israel von den Kirchen – wie von westlichen Staaten und Organisationen auch – grundsätzlich lautstark angeprangert und beklagt; wenn es aber um Gewalt, Menschenrechtsverletzungen und Hasspredigten auf palästinensischer Seite gehe, neigten die Kirchen – wie der Westen überhaupt – gerne zum Wegsehen, Verharmlosen und sogar Rechtfertigen.
Die kleine Schar von gerade einmal 185.000 Christen in Israel ist derzeit alarmiert. Hohe Kirchenvertreter und das internationale, überkonfessionelle christliche Hilfswerk „Open Doors“ beklagen seit Anfang 2023 vermehrt Gewalttaten gegen Christen. Diese machen nicht einmal zwei Prozent der Bevölkerung im jüdischen Staat aus.
Armenier in Jerusalem werden angegriffen und bedroht
or allem die kleine Gemeinde von etwa 2.500 Armeniern in der Jerusalemer Altstadt leidet unter Angriffen radikaler Juden, berichtet „Open Doors“. An den Hauswänden im armenischen Viertel haben demnach Unbekannte Hass-Graffitis wie „Tod den Christen“ und „Tod den Arabern und Heiden“ geschmiert. Auf Flugblättern werde zur Gewalt gegen Armenier aufgerufen.
Ein armenisches Restaurant sei bei einem Überfall von Dutzenden orthodoxer Juden verwüstet worden, die Gäste seien panikartig geflohen. Videos, die über Twitter verbreitet wurden, zeigen, wie Stühle und Tische durch die Gegend geschleudert werden. Obwohl die nächste Polizeistation keine 100 Meter entfernt ist, trafen die Beamten erst nach einer Stunde ein.
Henriette Kats von „Open Doors“ berichtete über weitere Übergriffe gegen die armenische Gemeinde. Jüdische Extremisten sollen eine Jesus-Statue in einer Kirche an der Via Dolorosa sowie Grabsteine auf einem protestantischen Friedhof zerstört haben. Zu den mutmaßlichen Tätern gehört auch ein Ultra-Orthodoxer aus den USA. Zwei Israelis schlugen nach Polizeiangaben in der Basilika neben dem Garten Gethsemane mit einer Metallstange auf einen Priester ein.
Das „schlimmste Jahr“ für Christen droht
Der Ökumenische Rat der Kirchen (ÖRK), auch Weltkirchenrat genannt, berichtete jüngst von rechtsgerichteten jüdischen Aktivisten gegen eine Veranstaltung evangelikaler Christen nahe der Klagemauer in Jerusalem. Verletzungen des Status quo führten zu „Spaltung, Not und Gewalt“, warnte ÖRK-Generalsekretär Jerry Pillay.
2023 werde „das schlimmste Jahr für die Christen seit einem Jahrzehnt werden“, fürchtet Yusef Daher vom „Zwischenkirchlichen Zentrum“ in Jerusalem. Er verweist wie Henriette Kats darauf, dass keineswegs alle körperlichen Angriffe auf Geistliche gemeldet würden. Das Zentrum hat allein bis Mitte März sieben schwerwiegende Fälle von Vandalismus an Kirchengebäuden registriert.
Auch das Oberhaupt der römisch-katholischen Kirche im Heiligen Land warnte vor einer spürbaren Verschlechterung des Lebens der Christen. Mitverantwortlich sei die rechts-religiöse Regierung, die zu Angriffen auf Christen ermutige, sagte der Patriarch des Heiligen Landes, Pierbattista Pizzaballa. Es gebe Minister, die gegen alles seien, was nicht jüdisch ist. Das sei rassistisch, warnte der vom Vatikan ernannte Lateinische Patriarch im katholischen Fernsehen K-TV. Israels Regierung ermutige Extremisten, Geistliche zu belästigen und christlichen Besitz zu vandalisieren. Die erkennbare Eskalation werde „mehr und mehr Gewalt mit sich bringen“, mahnte Pizzaballa.
Jüdisches Viertel der Altstadt ist „No-go-Area“ für Mönche
Heftige Vorwürfe gegen die Regierung Netanjahus erhob auch der neue Abt der deutschsprachigen Benediktiner-Abtei Dormitio in Jerusalem, Nikodemus Schnabel. Seit Antritt der Regierung Ende Dezember habe es in Israel eine starke Zunahme von Angriffen auf Christen gegeben, sagte Schnabel in einem Interview mit dem ORF.
„Es geht nicht mehr darum, ob ich angespuckt werde, sondern wie oft am Tag“, so der Ordensmann. Das jüdische Viertel in der Altstadt von Jerusalem sei für ihn als Mönch zu einer „No-go-Area“ geworden. Schnabel, der im ZDF seit 2018 eine eigene, religiöse Sendung moderiert, warf vor allem dem Minister für Nationale Sicherheit, Itamar Ben-Gvir, vor, den Hass auf Christen zu schüren.
Ben-Gvir, Vorsitzender der Partei Otzma Yehudit (deutsch „Jüdische Stärke“), war 2007 wegen Aufstachelung zu antiarabischem Rassismus und Unterstützung einer militanten jüdischen Gruppe gerichtlich verurteilt worden. Im national-religiösen Lager herrsche nach den Worten Schnabels die Einstellung, dass Israel allein den Juden gehöre.
Pater Nikodemus, seit über 20 Jahren Benediktiner in Jerusalem, betont in seinen Sendungen und Büchern stets, dass er weder „pro-israelisch“ noch „pro-palästinensisch“ sei; er sei „pro Mensch“. Ein schwieriges Unterfangen auf dem Boden der Stadt, die seit Jahrtausenden Juden, Christen und (seit dem 7. Jahrhundert) Muslimen als „Heilige Stadt“ gilt.
Zumindest in der Wahrnehmung der jeweils anderen Bevölkerungsgruppen ist der Anspruch von Neutralität in der historisch wohl am heftigsten umkämpften Stadt der Welt äußerst schwer zu vermitteln. Auch der deutsche Benediktiner wird wissen, dass das gegenseitige Misstrauen in den vielen religiösen und ethnischen Gruppen in kaum einer anderen Stadt größer ist als in Jerusalem.
Schließlich ist die Stadt seit mehr als 2.500 Jahren Schauplatz von Kriegen, Aufständen und Konflikten – ein Ort, wo Religion meist Identität und Zugehörigkeit definiert, wo religiös motivierte Gewalt seit jeher die Bewohner bedrohte.
Christliche Kirchen rücken etwas zusammen
Zumindest zwischen den Dutzenden christlichen Kirchen und Kongregationen gebe es heute nicht mehr die vielen, teilweise Jahrhunderte alten Rivalitäten und Spannungen, betont der deutsche Mönch. Das scheint auch die 2022 von zahlreichen christlichen Kirchen ins Leben gerufene Kampagne „Protecting Holy Land Christians“ zu belegen.
Auslöser war die Befürchtung, dass jüdische Gruppen versuchten, kirchlichen Besitz zu erwerben. Israelische Richter hatten den heftig umstrittenen Verkauf von Grundstücken der griechisch-orthodoxen Kirche nahe dem Jaffa-Tor an jüdische Siedler bestätigt. In dem jahrelangen Prozess hatte die Kirche nachzuweisen versucht, dass der griechisch-orthodoxe Mitarbeiter, der den Kaufvertrag unterschrieben hatte, dazu gar nicht die Berechtigung gehabt habe. Das griechisch-orthodoxe Patriarchat von Jerusalem verlor den Prozess und klagte über „expansionistische Praktiken“ jüdischer Extremisten.
Wer das Leben in Jerusalem mit seiner unvergleichlichen religiösen Vielfalt näher kennt, weiß, dass die christlichen Kirchen heute angesichts gemeinsamer Interessen mehr kooperieren als früher; von einem harmonischen Miteinander aber sind sie noch weit entfernt. Allein der schwierige Alltag der sechs christlichen Konfessionen in der Grabeskirche von Jerusalem belegt den fast babylonischen Charakter des Christentums in der Heiligen Stadt. Das Problem der Christen in Israel betrifft in erster Linie Jerusalem mit seinen knapp eine Million Einwohnern. Nur etwa 15.000 sind Christen, die meisten von ihnen Palästinenser im Osten der Stadt.
Die Judaisierung Jerusalems
Die politische Rechte in Israel sei darauf aus, „die Altstadt und die anderen Gebiete zu judaisieren, und wir haben das Gefühl, dass sie nichts mehr aufhalten kann“, sagt Pater Don Binder, Pfarrer an der anglikanischen St. Georgs-Kathedrale in Jerusalem, laut ABC-News. Die Kirchen seien bei diesen Judaisierungsbestrebungen „der größte Stolperstein“, meinte er.
Seine Worte machen indirekt auch deutlich, dass sich die christlichen Kirchen heftig gegen israelische Ansprüche auf ganz Jerusalem und das gesamte Heilige Land wehren. Keineswegs nur rechte und orthodoxe Israelis denken, dass auch Judäa und Samaria zu dem im Alten Testament versprochenen gelobten Land der Juden gehöre, also israelisches Kernland sei.
Allerdings schließt diese Sichtweise sowohl den arabischen Teil Jerusalems, den Tempelberg mit der Al-Aksa-Moschee sowie das gesamte Westjordanland mit ein, das – militärisch weitgehend von Israelis kontrolliert – unter palästinensischer Selbstverwaltung steht. Trotz der vielen jüdischen, teilweise illegalen Siedlungen leben hier ausschließlich Araber. Die Gemengelage im Zentrum des Nahost-Konflikts ist fast bei jedem Thema ziemlich kompliziert. So also auch bei der Lage der christlichen Minderheit.
Gefährliche Träume radikaler Israelis
Zu den christlichen Stimmen, die vor einer Überbewertung der Angriffe auf Christen in Israel warnen, gehört der Leiter von „Fokus Jerusalem TV“, Jürgen Th. Müller. Er verweist auf einige Hundert Angriffe auf Juden und jüdische Einrichtungen seit Jahresbeginn, bei denen es viele Toten und Schwerverletzte gegeben habe.
„Doch zum arabischen Terrorismus schweigen viele Kirchenvertreter ebenso konsequent wie zur systematischen Unterdrückung und Benachteiligung ihrer Glaubensgeschwister im Gebiet der Palästinensischen Autonomiebehörde und im Gazastreifen, wo die Zahl der Christen immer weiter sinkt“, meinte Müller in einem Kommentar des Senders, hinter dem die „Christliche Medieninitiative pro“ steht, ein Zusammenschluss evangelikal orientierter Journalisten. Tatsächlich erwähnten weder Schnabel noch Pizzaballa die Probleme der Christen in den Palästinensergebieten mit der muslimischen Mehrheit.
Müller verwies auf israelische Umfragen, denen zufolge 84 Prozent der Christen mit ihrem Leben im jüdischen Staat „zufrieden“ oder „sehr zufrieden“ seien. In Israel selbst gibt es auch kaum Beschwerden über die Situation der christlichen Minderheit. Henriette Kats von „Open Doors“ betonte mit Blick auf die Attacken gegen Christen in der israelischen Hauptstadt, „dass diese Art von Gewalt von der israelischen Gesellschaft nicht unterstützt wird“.
Auf die Solidarität der israelischen Zivilgesellschaft mit den Christen verweist auch ein offener Brief von dreihundert Religions- und Geisteswissenschaftlern an Universitäten und Hochschulen in Israel. „Wir fordern die Behörden dringend auf, entschlossen gegen die für diese Straftaten verantwortlichen Täter vorzugehen und die Angehörigen aller Religionen vor Hass, Ignoranz und Gewalt zu schützen“, heißt es da.
Inzwischen hat auch die Regierung auf die anti-christlichen Angriffe reagiert. „Israels Engagement für die Religionsfreiheit ist uns seit jeher wichtig“, wurde die Leiterin der Abteilung Weltreligionen im israelischen Außenministerium, Tania Berg-Rafaeli, Mitte April vom britischen The Guardian zitiert. Polizei und Justiz würden jeden Einzelfall verfolgen und ahnden.
Palästinensische Christen müssen zwei Fronten fürchten
Zweifellos aber ist das Leben von Christen in Jerusalem ebenso wie im palästinensischen Gazastreifen und im Westjordanland auf vielfache Weise belastet. Die Christen in den palästinensischen Gebieten leiden wie alle anderen unter den Anti-Terror-Maßnahmen der israelischen Regierung. Dazu gehören Armeeeinsätze, Ausgangssperren, Razzien und nicht selten auch schikanöses Verhalten israelischer Beamter an Kontrollstellen.
Christliche Palästinenser haben aber auch in ihren palästinensischen Dörfern und Städten erhebliche Probleme. Vor allem die wachsende Zahl radikaler Muslime und Islamisten ist oft unverhohlen feindselig. Zudem müssen Christen mit ihren eigenen Riten und Gebräuchen immer fürchten, in ihrer Heimat als Fremde diskriminiert zu werden oder auch schnell in den Verdacht zu geraten, mit den Besatzern zu kollaborieren.
Die Fakten sprechen eine deutliche Sprache über die Lage der Christen im Heiligen Land: Der Anteil der christlichen Bevölkerung Jerusalems ist von mehr als 20 Prozent vor hundert Jahren auf heute weniger als zwei Prozent gesunken. Im palästinensisch kontrollierten Bethlehem leben heute höchstens noch 30.000 Christen, 1995 waren es noch 90.000.
Das Verschwinden der Christen in Gaza
Im Westjordanland gibt es inzwischen weniger als 50.000 Christen. Es gibt unterschiedliche Schätzungen, wie drastisch ihre Zahl abgenommen hat. Im Gazastreifen mit seinen knapp zwei Millionen Einwohnern gab es nach Vatikan-Angaben vor 15 Jahren noch 3.500 Christen, darunter etwa 200 Katholiken. Inzwischen sei die Zahl auf 1.070 Christen geschmolzen, die Zahl der Katholiken auf 133.
Die Kirchen nennen als Ursachen vor allem die niedrigere Geburtenrate christlicher Familien, zudem seien viele Christen aus wirtschaftlichen Gründen ausgewandert. Auch der Ausbau israelischer Siedlungen im Westjordanland bedrohe palästinensische Christen, so eine Analyse der Konrad-Adenauer-Stiftung.
Allerdings verweisen manche Berichte auch auf den wachsenden Druck der muslimischen Mehrheitsgesellschaft auf die Christen. Ein Blick auf die muslimischen Länder im Nahen Osten belegt die stetige Abnahme religiöser Minderheiten – ganz ohne israelische Besatzung und Drangsalierung. Die Geschichte des vergangenen Jahrhunderts legt den Schluss nahe, dass Minderheiten im Nahen Osten grundsätzlich ein schweres Los haben. Israel müsste man da fairerweise ausnehmen – trotz der jüngsten Entwicklungen.
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