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Kolumne „Der Philosoph“

Die Euphemismus-Tretmühle

In seinem „Tractatus logico-philosophicus“ (1921) schrieb der Philosoph Ludwig Wittgenstein: „Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt.“ Wenn das Erfahrbare tatsächlich durch das Sagbare bestimmt und begrenzt würde, dann würde derjenige, der über die Sprache herrschte, zugleich über die Welt herrschen.

Das Unterfangen, durch ein rigoroses Sprachregime Macht auszuüben, ja die Wirklichkeit selbst zu formen, ist nicht neu. Schon die Sophisten im antiken Griechenland waren, zumindest wenn man Platon trauen darf, darauf spezialisiert, durch allerlei sprachliche und rhetorische Augenwischereien Einfluss auf die Gesellschaft zu nehmen.

Eine besondere Form des Versuchs, die Wirklichkeit sprachlich umzugestalten, stellen Sprachverbote dar, wie sie in den 1990er Jahren unter dem Etikett „Political Correctness“ und heute unter dem der „Wokeness“ bekannt und verbreitet sind. Der Ablauf ist stets gleich: Ein gängiger Ausdruck wird zum Unwort erklärt und durch einen angeblich moralisch korrekten, nicht-abwertenden Neologismus ersetzt.

Es geht um Macht, nicht um das sittliche Gut

Doch innerhalb kurzer Zeit scheint auch der neue Ausdruck die negative Bedeutung des alten angenommen zu haben; an seine Stelle muss wiederum eine neue, beschönigende Formulierung treten. So wurde etwa im Amerikanischen im Laufe weniger Jahre aus „negro“ „black“, aus „black“ „African-American“ und aus „African-American“ inzwischen „PoC“ („Person/People of Color“).

Es ist nur eine Frage der Zeit, bis auch dieser Ausdruck als moralisch kontaminiert gilt und ersetzt werden muss. Ein anderes aktuelles Beispiel ist das Wort „homeless“ (also „obdachlos“), das nun durch das schönfärberische „unhoused“ (in etwa „nicht untergebracht“) substituiert werden soll. Dieses eitle Sprachspielchen, für das der US-amerikanische Psychologe und Linguist Steven Pinker den treffenden Terminus „Euphemismus-Tretmühle“ geprägt hat, ist freilich nicht aufs Englische beschränkt, sondern auch im Deutschen immer öfters anzutreffen. So hörte ich jüngst von meinem Sohn, eine Lehrerin hätte darauf hingewiesen, man solle besser „gehörlos“ statt „taub“ sagen, weil Letzteres diskriminierend sei.

Die Motivation hinter der Euphemismus-Tretmühle scheint auf den ersten Blick moralischer Art zu sein. Richtiger wäre aber wohl zu sagen: Sie ist moralistischer Natur. In Wahrheit dürfte es nämlich nicht um das sittlich Gute, sondern nur um Macht und das Gefühl der eigenen Überlegenheit gehen.

Die eigentlichen Probleme werden nicht gelöst

Wer als erster weiß, was man aktuell sagen darf und was nicht, darf sich zur moralischen Avantgarde zählen. Der Sprachpolizist kann sich dadurch nicht nur als ein guter, sondern als ein besserer Mensch fühlen: Er kann sich sicher sein, einer höheren Sphäre anzugehören als der Hinterwälder, der die „diskriminierende“ Sprache einer moralisch rückständigen Vergangenheit gebraucht.

Dass es sich bei den woken Wortneuschöpfungen in Wahrheit nur um pseudo-moralische Tünche handelt, mit der ein machtpolitischer Vorgang verschleiert werden soll, merkt man nicht zuletzt daran, dass die eigentlichen Probleme sich nicht durch Umbenennung lösen lassen. Das ist ebenso unmöglich, wie ein marodes Fundament dadurch zu reparieren, dass man die Fassade neu streicht.

Die Euphemismus-Tretmühle offenbart so gesehen letztlich die Ohnmacht der Sprache angesichts der Widerständigkeit der Welt. Allerdings ist das politisch korrekte Sprachregime in vielen Fällen mächtig genug, um arglose Menschen, die sich einer „falschen“ Sprachverwendung schuldig gemacht haben, der sozialen Ächtung preiszugeben.

Durch unnötige Vulgarität lässt sich der Kampf nicht gewinnen

Bei aller Kritik an der moralistischen Sprachmanipulation sollte man aber nicht blind werden gegenüber den Erfordernissen der Höflichkeit und des guten Stils. Manche im Grunde harmlosen Wörter mögen zu Unrecht in Verruf geraten sein, wenn aber nun einmal die große Mehrheit der Sprachverwender sie für ungeziemend hält, kann es unklug und starrsinnig sein, auf ihrem Gebrauch zu beharren (man denke beispielsweise an das im Deutschen lange gängige lateinische Lehnwort für „Schwarzer“).

Und durch unnötige Vulgarität lässt sich der Kampf gegen die Euphemismus-Tretmühle erst recht nicht gewinnen.

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Kommentare

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Florian Hettig
Vor 1 Jahr 6 Monate

Kluger Artikel! | Es ist so wichtig, gegen den vermeintlichen Mainstream heute aufzustehen. Aber (ltz Abschnitt) auch Freundlichkeit und Respekt nicht zu vergessen, um nicht von der anderen Seite des Pferds zu fallen.

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Florian Hettig
Vor 1 Jahr 6 Monate

Kluger Artikel! | Es ist so wichtig, gegen den vermeintlichen Mainstream heute aufzustehen. Aber (ltz Abschnitt) auch Freundlichkeit und Respekt nicht zu vergessen, um nicht von der anderen Seite des Pferds zu fallen.