Ein Land an der Schwelle
Die Bundesrepublik Nigeria, das mit Abstand bevölkerungsreichste Land Afrikas, hat fast 93 Millionen Wahlberechtigte. Bei der Wahl am 25. Februar wurde ein Nachfolger für den bisherigen Präsidenten Muhammadu Buhari gesucht, der nach zwei Amtszeiten nicht mehr antreten durfte. Zugleich wurden auch beide Kammern des Parlaments neu gewählt.
Das Ergebnis liest sich glatt, obschon von einigen Problemen berichtet wurde, die aber in der offiziellen Berichterstattung eher überschaubar klangen. Die APC-Partei, die sich selbst als „sozialdemokratisch“ bezeichnet, hatte Bola Tinubu, den einflussreichen Ex-Gouverneur der Megametropole Lagos, ins Rennen geschickt. Auf ihn entfielen, so die offizielle Zählung, 8.794.726 Stimmen, und die Wahlbehörde erklärte ihn zum Sieger der Präsidentschaftswahl.
Das Kürzel APC steht für „All Progressives Congress“. Und hier taucht bereits die erste Frage auf. Gibt es nicht auch eine Labour Party in Nigeria – also das, was klassisch übersetzt „Sozialdemokratie“ bedeutet, eine Gewerkschaftspartei? Ja, durchaus, und ihr Kandidat bei den aktuellen Wahlen war der 61-jährige Peter Obi, ein politischer Quereinsteiger, der vor allem bei den jungen Wählern extrem gut ankam.
Weder klare Verhältnisse noch stabile Mehrheiten
Was aber ist dann unter dem „Progress“ der „All Progressives“ in der APC zu verstehen? Die Antwort ist ernüchternd: Es bedeutet Islamisierung. Denn die APC ist eine Partei, die sich zuvörderst als Vertreterin des politischen Islam sieht, und dort ist der Begriff „Fortschritt“ ein Synonym für Islamisierung – während im Gegensatz dazu nach dieser Terminologie eine „Region des Krieges“ eine ist, in der sich die Menschen anders und vielleicht einfach nur „frei“ orientieren. In der sie eben nicht der streng islamischen Scharia folgen wollen – das wird in Europa immer noch zu wenig beachtet, teils aus Unwissen, teils aufgrund ideologischer Scheuklappen.
Zum Wahlsieg von Tinubu, dem Kandidaten des politischen Islam, also des APC, gehörte auch die eher komplizierte Klausel, dass er mindestens 25 Prozent der Stimmen in zwei Dritteln der 36 nigerianischen Bundesstaaten erhalten musste. Auch diese Voraussetzung ist laut Wahlkommission erfüllt worden. Doch Atiku Abubakar von der Peoples Democratic Party (PDP) erhielt 6.984.520 Stimmen und damit den zweiten Platz, Peter Obi von der Labour Party wurde mit 6.101.533 Stimmen Drittplatzierter, Rabiu Kwankwaso von der NNPP kam auf 1.496.687 Stimmen – Tinubu konnte also nur eine relative Mehrheit für sich verbuchen, und das bei einer Wahlbeteiligung von gerade einmal 25 Prozent. Die APC, PDP und Labour eroberten jeweils zwölf, die NNPP gewann einen Bundestaat. Das sind weder klare Verhältnisse noch stabile Mehrheiten.
„Wahlbetrug in großem Ausmaß“
Eine kundige Berichterstattung über diesen unklaren Ausgang und vor allem über die Umfirmierung einer radikal religiös eingestellten Partei war in Europa nicht zu vernehmen. Immerhin, das ZDF zum Beispiel berichtete von „Spannungen bei Stimmauszählung“. Das klingt ein wenig nach Euphemismus, und das war es auch. Ansonsten übernahmen verschiedene große Medien kritiklos das irreführende Attribut „sozialdemokratisch“ für den stramm islamisch orientierten APC, und zugleich rückte damit die eigentliche sozialdemokratische Kraft in Nigeria, die Labour Party nämlich, ins Abseits.
Das passt ins Bild. Denn im Krisenstaat Nigeria tobt einer der härtesten Binnenkriege gegen Christen weltweit. Nachzulesen ist das bei allen Menschenrechtsorganisationen, am deutlichsten bei Open Doors, wo das 220-Millionen-Einwohnerland im Weltverfolgungsindex einen schlimmen sechsten Platz besetzt – vor traditionell extrem christenfeindlichen Staaten wie Iran, Afghanistan und Pakistan.
Wie passt das alles nun zu den Berichten über eine eher weniger spektakuläre Wahl in Nigeria? Gar nicht! Ein Nigerianer, der im sicheren Deutschland lebt, meldet sich nun warnend zu Wort – es nicht irgendwer, sondern der aus dem Süden Nigerias stammende Dr. Franklyne Ogbunwezeh, der bei der in der Schweiz ansässigen Christian Solidarity International (CSI) für die Prävention von Völkermord – vor allem, aber nicht nur – an Christen zuständig ist. Wie sieht er diese Abstimmung über die Präsidentschaft?
„Es war leider Wahlbetrug in großem Ausmaß im Spiel“, sagt Ogbunwezeh, und er ist erstaunt, wie offensichtlich dies durch die Independent National Electoral Commission, kurz INEC, organisiert wurde: „Die INEC hatte angekündigt, flächendeckend eine elektronische Stimmenzählmaschine zu nutzen. Diese Maschine wurde auch genutzt, aber für die anderen Abstimmungen des Tages, die Präsidentenwahl fand ja gleichzeitig mit den Parlamentswahlen statt. Merkwürdigerweise wurden die Stimmabgaben für die Präsidentenwahl weder dokumentiert noch transparent dargestellt.“
Abstimmung von nackter Gewalt überschattet
Die beiden großen nigerianischen Oppositionsparteien bestätigen diese Sicht. Bei einer gemeinsamen Pressekonferenz in Lagos erklärten Labour-Party und Peoples Demokratic Party (PDP) die komplette Wahl für unrechtmäßig. Der Labour-Parteivorsitzende, Julius Abure, bezeichnete die „gesamte Wahl“ als „unwiederbringlich kompromittiert“. Die Deutsche Welle zitierte ihn mit einer deutlichen Forderung: „Wir verlangen, dass diese Scheinwahl sofort abgebrochen wird!“ Der nigerianische Labour-Chef forderte eine Neuansetzung der kompletten Präsidentschaftswahl. Kandidat Peter Obi, der sich als Wahlgewinner sieht, will gerichtlich eine Bestätigung des Sieges einklagen. Am Mittwoch der Karwoche zitierte ihn das nigerianische Nachrichtenportal Punch, er werde unter Druck gesetzt, das Land zu verlassen, von verschiedenen Seiten gebe es Angriffe gegen seine Person.
Auch die Wahlbeobachter der EU warfen der zentralen Wahlbehörde in einem vorläufigen Bericht „schlechte Planung“ vor, denn vielerorts waren die Mängel so eklatant, dass die Wahllokale erst gegen 15 Uhr öffnen konnten. Die Wahlbeobachter bemängelten aber vor allem „mangelnde Transparenz“ – das lässt aufhorchen.
Diese massiven Zweifel an der Legitimität der Abstimmung wären schon schlimm genug, doch der Wahltag war von noch ganz anderen Umständen begleitet. „Spannungen“, wie sie das ZDF verniedlichend feststellte, gab es vor allem auch bei den Stimmauszählungen, wie Franklyne Ogbunwezeh aus Nigeria erfuhr: „Bewaffnete Banden haben in Gebieten, in denen Peter Obi von der Labour Party besonders stark ist, Wahllokale überfallen und die Wahlurnen komplett verbrannt.“
Zehntausende von Stimmen kamen damit gar nicht erst zur Auszählung – mutmaßlich zum Vorteil der islamisch kontrollierten APC, denn Peter Obi ist Christ, ohne daraus allerdings politisches Kapital schlagen zu wollen. Seine Wähler finden sich im mittleren und südlichen Landesteil sowie ganz besonders in Lagos, was auch nicht verwunderlich ist, sind es doch auch hierzulande eher die Städte, in denen die Sozialdemokraten stark sind. Und – es kann nicht oft genug betont werden – die politische Kraft in Nigeria, die sich sozialdemokratisch nennen darf, ist die Labour Party, und nicht etwa die islamische APC.
„Die jungen Nigerianer haben Peter Obi gewählt“
Viele junge Nigerianer in den Städten haben nun das Gefühl, dass Peter Obi der Wahlsieg gestohlen wurde. Dass manche Stimmen manuell ausgezählt wurden, andere aber maschinell, und dass nicht klar ist, für welche Wahllokale welche Methode angewandt wurde, macht sie misstrauisch. Anhand von Zahlen kann freilich nichts bewiesen werden, aber gerade dann, wenn Unklarheiten bleiben, wachsen derartige Überzeugungen, wächst die Wut: „Die herrschende Politikerkaste in Nigeria zerstört die Hoffnungen einer ganzen Generation. Die Enttäuschung ist riesig“, sagt Ogbunwezeh.
Weil es einen christlichen Politiker trifft, wachsen natürlich auch die ohnehin starken religiösen Spannungen in Nigeria, die sich nicht zuletzt in der Christenverfolgung katastrophalen Ausmaßes manifestieren, immer weiter: „Wenn die Menschen voneinander entfremdet werden, wird die Xenophobie wachsen, die Angst vor dem Fremden. Und wenn die Xenophobie an die Macht kommt, ist ein Völkermord die logische Folge“, so Ogbunwezeh weiter.
Wirklich – Völkermord? Der Genozid-Experte aus Nigeria bestätigt: „Wir haben das in Ruanda gesehen. Nigeria steht momentan an der Schwelle dazu. Die jungen Nigerianer haben Peter Obi gewählt, einen Sozialdemokraten, der zwei Abschlüsse aus Harvard hat, ein wirklich kluger Mann. Für ihn haben die jungen Wähler jetzt erstmals die Zukunft in die Hand genommen – bisher waren sie apathisch, aber jetzt sind sie motiviert. Und nun diese Enttäuschung.“
Beobachter sehen die staatliche Integrität Nigerias in Gefahr
Schon sieht er die staatliche Integrität des Vielvölkerstaates Nigeria ernsthaft in Gefahr: „Kein Land dieser Größe kann einen Völkermord und den damit einhergehenden schweren Bürgerkrieg unbeschadet überleben. Gerade Nigeria, dieses große und inhomogene Land, kann das nicht. Es wird zerbrechen, und ungeahntes Leid wird die Folge sein.“
Einen ersten Vorgeschmack darauf gab es in Gwoza im Norden Nigerias, im Bundesstaat Borno. Dort wurden, wie unter anderem das Portal „Evangelisch.de“ berichtet, zwei Mörserbomben auf Menschen geworfen, die in großen Gruppen darauf warteten, ihre Stimme abgeben zu können. Dabei wurden mindestens fünf Menschen verletzt. Viele blieben anschließend der Wahl fern, aus Angst vor weiteren Angriffen. Das Portal zitiert Vermutungen, nach denen die Terrororganisation „Boko Haram“ für die Attacke verantwortlich sein dürfte.
Bereits 2012 warnte Ulrich Delius von der Gesellschaft für bedrohte Völker: „Nigeria droht eine Zerreißprobe. Das Land steht vor der schwersten Prüfung seiner Einheit seit dem Völkermord in Biafra.“ Das Muster der Anschläge deute auf eine „systematische ethnische und religiöse Säuberung“ im bevölkerungsreichsten Staat Afrikas hin – so zitierte schon damals der britische Guardian den Präsidenten der Organisation, Pastor Ayo Oritsejafor, und damit ist nichts anderes als ein Bürgerkrieg gemeint.
Diese Warnungen könnten nun relevanter denn je sein, wie die Beobachtungen des Spezialisten für Völkermord-Prävention, Ogbunwezeh, deutlich untermauern. Denn die Lage hat sich seitdem nur noch verschlimmert.
„Wir können nur hoffen und beten“
Bliebe noch die Frage nach der Religion, denn hierzulande wird vielfach eher ein Konflikt zwischen sesshaften Bauern und nomadischen Hirten gesehen, wobei – sozusagen durch einen historischen Zufall – die Bauern, die umgebracht werden, christlich und die angreifenden Hirten, die Fulani, moslemisch sind. Stimmt das mit diesem Zufall?
Ogbunwezeh schüttelt energisch den Kopf: „Der Religionsaspekt ist klar zu sehen. Der gewählte Präsident hat ein ‘Moslem-Ticket’, in Nigeria wird das ganz offen so genannt. Niemand im Land glaubt, dass er ehrlich gewonnen hat, aber moslemische Kreise sagen nichts.“ Und die Christen? „Sie glauben dem neuen Präsidenten nicht, dass er auch ihr Präsident sein möchte. Sie befürchten vielmehr, dass Schlimmes bevorsteht.“
Insbesondere gilt das für die riesige Metropole Nigerias, für Lagos. Wie es dort jetzt aussieht, weiß Franklyne Ogbunwezeh nur zu genau: „Gewalt liegt förmlich in der Luft, die Gefahr steigt jeden Tag. Ganz besonders in Lagos. Die riesige Stadt mit rund 20 Millionen Menschen, denn die Vororte müssen mitgezählt werden, wenn es um mögliche Gewaltausbrüche geht – diese Riesenstadt ist jetzt ein einziger ‘battle ground’.“ Zwar bedeutet dieser Begriff aus dem Englischen zunächst nur, dass harte Auseinandersetzungen bevorstehen, die auch politisch sein können, aber: „Wir können nur hoffen und beten, dass Lagos nicht ein wirkliches Schlachtfeld wird.“
Warum sich junge Nigerianer nach Europa aufmachen
Und was, falls das doch geschieht? Ist Nigeria ein Land wie jedes andere? Erneut schüttelt Ogbunwezeh energisch den Kopf: „Nigeria ist größer, als viele Europäer denken. Das Land ist fast dreimal so groß wie Deutschland, wir haben über 350 verschiedene Stämme mit jeweils eigenen Sprachen. Das Land ist wie eine kleine EU, und die Menschen werden nun von der APC, der regierenden Partei, gegeneinander ausgespielt. Dass diese Partei versagt hat, ist der Grund dafür, dass junge Nigerianer monatelang durch die Sahara gehen, und zwar häufig zu Fuß, ist der Grund dafür, warum sie auf dem Mittelmeer sterben.“
Spätestens die Aussicht auf unsagbares Leid, das Millionen von Flüchtlingen erleiden, bevor sie vor unserer Haustür stehen, mitten in Deutschland, sollte uns hierzulande aufrütteln, wenn wir an Nigeria denken.
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