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Interview mit Giuseppe Gracia

„Wenn Israel fällt, fällt der Westen“ – Wahrheit oder Übertreibung?

Weil auf der Berlinale antisemitische Parolen zelebriert wurden, ermittelt jetzt der Staatsschutz. Jüdische Studenten klagen über fehlenden Schutz durch Universitätsleitungen und müssen regelmäßig Schmierereien sowie Angriffe erdulden. In zahlreichen europäischen Städten wie Berlin oder Zürich wurden Häuser mit Judensternen markiert. Seit dem 7. Oktober 2023 ist Antisemitismus wieder salonfähig geworden. Und die Diskussion um legitime Israelkritik lässt sich weder im öffentlichen noch im privaten Bereich nüchtern führen. Was ist los, und gibt es eine Erklärung für diese diffuse Auseinandersetzung?

In 120 Seiten erklärt Giuseppe Gracia in „Wenn Israel fällt, fällt auch der Westen – Warum der Antisemitismus uns alle bedroht“ (Fontis Verlag, 2025) plausibel und mit geschichtlichen Quellen, warum Israel der Schutzwall des Westens ist und daher auch die letzte Hoffnung auf eine freiheitliche Zukunft darstellt. Seine Argumentation überrascht in Zeiten extremer Polarisierung und salonfähig gewordenem Antisemitismus.

Herr Gracia, weshalb dieses Buch? 

Das Buch ist das Resultat einer beunruhigenden Erfahrung. Ich habe mich jahrelang abgemüht, das Phänomen Antisemitismus und Antiisraelismus zu erfassen, am Ende blickt man in einen irrationalen Abgrund. Unterdessen werden in Europa Judenhass und Israel-Dämonisierung wieder so drängend, eine Gefahr nicht nur für das jüdische Leben, sondern für unser aller Freiheit, dass man es nicht ignorieren kann. Man muss versuchen, die Dinge beim Namen zu nennen und Stellung zu beziehen. Das versuche ich mit dem Buch.

Sie schreiben, der Westen erkenne nicht, dass Israel auch für westliche Werte kämpft. Welche konkreten Werte meinen Sie dabei, und wie sehen Sie diese in Israel stärker verkörpert als in anderen Nahost-Staaten?

Israel ist nicht nur ein Land, sondern eine biblische Größe, Heimat des Judentums. Israel zu schützen bedeutet, das Judentum zu schützen. Das ist in unserem Interesse, denn ohne Judentum gibt es kein Christentum, ohne Christentum keine Menschenrechte, und ohne Menschenrechte keine Freiheit, keinen Rechtsstaat, keine westliche Zivilisation. Der Kampf um Israel ist also der Kampf um den Schutz unserer geistigen Wurzeln. Das gilt nicht für Staaten im Nahen Osten, die meist totalitäre Regimes sind.

Sie erwähnen Doppelstandards in der Beurteilung Israels im Vergleich zur Ukraine. Warum glauben Sie, dass diese unterschiedliche Haltung im Westen gegenüber Israel besteht, und welche Rolle spielt Ihrer Meinung nach der moderne Antisemitismus darin?

Bei uns sind Doppelstandards betreffend Israel an der Tagesordnung, das zeigt ein Blick den Medienspiegel der letzten Jahre. 80 Jahre nach dem Holocaust nimmt der Antisemitismus in Europa wieder zu, nicht nur unter Studenten und Interessierten der Generation YouTube oder TikTok. Der Judenhass 2.0 läuft unter „Pro Palästina“-Slogans und „Antiimperialismus“: als Anklage gegen die Sünden des kapitalistischen Westens, an denen angeblich einflussreiche Juden schuld sind. 

„Es fällt auf, wie negativ Israel gerade in Westeuropa beurteilt wird“

Sie gehen im Buch auf die historische Legitimität Israels ein und widerlegen das Bild der Besatzungsmacht.

Im westlichen Establishment bis in die Führung der Vereinten Nationen werden diffamierende Vorurteile verbreitet, etwa dass Israel eine Besatzungsmacht gegen die Araber sei. Das hält keiner seriösen, historischen Betrachtung stand. Auf dem heutigen Gebiet Israels hat es in den letzten 3.000 Jahren nur zwei unabhängige Staaten gegeben: Beide waren jüdisch, und beide wurden von Invasoren zerstört. Es gab dort zu keiner Zeit einen arabischen oder muslimischen Staat. Im Nahen Osten haben also bereits Juden gelebt, als es noch gar keine Muslime oder Christen gab. Israel-Gegner behaupten auch gern, das Land sei rassistisch, ein Apartheid-System. In Wahrheit ist Israel der einzige Rechtsstaat im Nahen Osten, in dem Juden, Muslime, Christen und Atheisten die gleichen Rechte genießen. Jeder zweite Einwohner ist nicht weiß und jeder fünfte kein Jude.

Der in Jerusalem dienende Pater Nikodemus Schnabel sprach im Corrigenda-Interview von einer „Religionisierung“ der Politik, er berichtete, dass Christen bedroht, er täglich angespuckt und angerempelt werde, von national-religiösen Juden wohlgemerkt. Gleichzeitig gibt es Siedlergewalt und eine Vertreibungspolitik im Westjordanland, die von Menschenrechtlern verurteilt wird. Sehen Sie denn keine legitimen Gründe für Kritik an Israel?

Selbstverständlich ist Kritik am israelischen Staat legitim und hat nicht zwangsläufig mit Antisemitismus zu tun. Dennoch fällt auf, wie negativ Israel gerade in Westeuropa beurteilt wird im Vergleich zu allen anderen Staaten, die in Konflikte involviert sind. Ein aktuelles Beispiel ist der Umgang mit der Ukraine. Hier ist sich der politisch-mediale Mainstream in Westeuropa einig: Die Ukraine darf nicht vor dem Aggressor Putin in die Knie gehen. Weder Mitgliedsländer der EU noch die UNO fordern einen Waffenstillstand oder Friedensverhandlungen mit dem russischen Diktator, der nicht Frieden, sondern Eroberung anstrebt. Im Falle von Israel, seit Jahrzehnten bedroht von Hamas, Hisbollah und dem Mullah-Regime im Iran, denkt im gleichen Westen niemand an Waffenlieferungen. 

Stattdessen verlangt man Friedensverhandlungen mit dem Aggressor, der nicht nur die Eroberung, sondern die Auslöschung des Gegners anstrebt. Kein EU-Mitglied würde je nach Waffenstillstand rufen, wären am 7. Oktober 2023 in Deutschland, Frankreich oder Österreich Islamisten über die Grenze gekommen, um Babys zu erschießen, Frauen zu Tode zu vergewaltigen und Hunderte Zivilisten zu massakrieren. 

 

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Wie erklären Sie sich, dass die Narrative von Unterdrückung und Besatzung dennoch so stark in der öffentlichen Debatte verankert sind?

Es gibt einen israelfeindlichen „Postkolonialismus“, der große Teile des westlichen Bildungs- und Kulturwesens dominiert: Universitäten, Bücher, Filme, Nachrichten und Social-Media-Inhalte. Es handelt sich um eine Ideologie, die unter dem Etikett des Antirassismus und des Widerstands gegen „das System“ auftritt, das heißt, gegen westliche Unterdrückung und Ausbeutung. Zu dieser Ideologie gehört die Darstellung Israels als US-amerikanisches Kolonialprojekt, ähnlich wie im Denken der Islamisten. 

„Man versteht das Phänomen des Judenhasses besser mit den Gedanken von Papst Benedikt XVI.“

Ihr Buch bietet verschiedene Ansätze zur Erklärung des Judenhasses – historische, ideologische und psychologische. Welche dieser Deutungen halten Sie persönlich für die überzeugendste, und warum reicht sie dennoch nicht aus, um das Phänomen vollständig zu erfassen?

Vollständig erfassen kann man es meiner Meinung nach gar nicht. Man versteht es jedoch besser mit den Gedanken von Papst Benedikt XVI., die er in Bezug auf den Holocaust einmal sagte: „Im Tiefsten wollte man mit dem Zerstören Israels, mit dem Austilgen dieses Volkes den Gott töten, der Abraham berufen, der am Sinai gesprochen und dort die bleibend gültigen Maße des Menschseins aufgerichtet hat (...) Wenn dieses Volk einfach durch sein Dasein Zeugnis von dem Gott ist, der zum Menschen gesprochen hat und ihn in Verantwortung nimmt, so sollte dieser Gott endlich tot sein und die Herrschaft nur noch dem Menschen gehören.“ Für mich heißt das auch, dass der Angriff aufs Judentum ein Angriff auf die kollektive Erinnerung daran ist, dass Gott keine Erfindung des Menschen ist, sondern der Mensch eine Erfindung Gottes. 

Wie differenzieren Sie zwischen legitimer Kritik an der Politik Israels und antisemitischen Tendenzen, die sich hinter solcher Kritik verbergen können?

Kritik an der Regierung Israels ist nicht antisemitisch oder antiisraelisch, immerhin gehören viele Juden selbst zu leidenschaftlichen Kritikern ihrer Regierung. Andererseits muss klar sein, in welcher Weise Politiker, Medienschaffende oder Kulturpromis, wenn sie etwa nach Waffenstillstand in Gaza rufen, eine israelfeindliche Stimmung fördern. Judenhass wird in diesem Kontext weniger dadurch geschürt, dass man etwas Falsches sagt, als vielmehr dadurch, dass wichtige Aspekte ausgeblendet werden. 

Welche wären das?

Wer etwa den Eindruck erweckt, Israel habe nicht nur die moralische Pflicht, sondern auch die realpolitische Macht, mit Massenvergewaltigern und Babykillern zu verhandeln und den Terror zu beenden, der fördert Antisemitismus, indem er die Realität der Hamas ausblendet. Genauer: Indem er so tut, als wären die Hamas und der Islamismus grundsätzlich an einer friedlichen Koexistenz mit den Juden interessiert. Das ist eine Illusion.

Zur Person Giuseppe Gracia

Giuseppe Gracia (*1967) ist sizilianisch-spanischer Abstammung, verheiratet und hat zwei Kinder. Der Schweizer arbeitet als Publizist, Kommunikationsberater und Schriftsteller und ist regelmäßiger Autor für das Feuilleton der Neuen Zürcher Zeitung. Er veröffentlicht auch Beiträge in deutschen Medien und aus seiner Feder stammen mehrere Romane. Zwischen 2011 und 2019 war Gracia Sprecher des Bistums Chur unter dem konservativen Bischof Vitus Huonder, eine Rolle, die er als „Highspeed-Job“ beschrieb. Gracia gilt als liberal-konservativer Denker, der sich nicht scheut, gegen den Strom zu schwimmen.

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