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Selbstverwirklichung – ein säkulares Credo

Für wen bin ich da?

Noch heute wird das Jahr 1789 in der Geschichtsschreibung verklärt. In Versailles nahm die Französische Revolution, die als Befreiung von der absolutistischen Feudalherrschaft und Triumph der Ideen der Aufklärung gefeiert wird, ihren Ausgang. Adel, Klerus und der „dritte Stand“, darunter das liberale Bürgertum, versammeln sich, der „dritte Stand“, der 98 Prozent des Volkes repräsentiert, fordert die Macht des Volkes – und die „Nationalversammlung“ wird Wirklichkeit, die Ereignisse überstürzen sich. Im Namen von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit?

Tatsächlich aber war die folgende Französische Revolution ein Massaker: Unter dem Banner von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit wurden weit über 20.000 Menschen grausam hingerichtet. In der Zeit des „Grande Terreur“ 1793/94 wurden das Königspaar Ludwig und Marie Antoinette, Philosophen, Priester und Bischöfe getötet. Schuldig bei Verdacht: Wer der Revolution feindlich gesinnt zu sein schien, konnte hingerichtet werden gemäß dem am 10. Juni 1794 vom sogenannten „Wohlfahrtsausschuss“ unter Mitwirkung von Maximilien de Robespiere beschlossenen Gesetz. Diabolische Blutbäder wurden angerichtet. So kamen am 17. Juli 1794 16 Karmelitinnen aufs Schafott, weil sie sich weigerten, ihre Gelübde zu brechen – die seligen Märtyrinnen von Compiègne. Auch später missliebige Revolutionsführer wie Georges Danton wurden exekutiert.

„Eine Pervertierung der Freiheit“

Die Jakobiner mordeten im Namen der Aufklärung, priesen die Menschenrechte und kannten keine Gnade. Rund 250 Jahre später plädiert das EU-Parlament für das „Menschenrecht auf Abtreibung“. Und in einer Stunde tiefster politischer Düsternis verankerten beide Kammern des französischen Parlaments, die Nationalversammlung und der Senat, am 4. März 2024 die Freiheit zur Abtreibung in der Verfassung. Der Deutschlandfunk berichtete am Tag danach: „Vertreter beider Parlamentskammern votierten in einer Sondersitzung in Versailles mit einer Mehrheit von 780 Stimmen für den Schritt. Es gab lediglich 72 Gegenstimmen. Frankreich ist damit das erste Land weltweit, das solch eine Regelung einführt. Regierungschef Attal sagte, man sende eine Botschaft an alle Frauen. Ihr Körper gehöre ihnen und niemand könne für sie entscheiden.“

Anders formuliert, soll ein ungeborenes Kind der Selbstverwirklichung einer Frau nicht mehr im Wege stehen. Staatspräsident Emmanuel Macron sprach emphatisch von einer „universellen Botschaft“ Frankreichs. Auch Bundesfamilienministerin Lisa Paus (Grüne) bejubelte diesen Beschluss und verwies auf Pläne der deutschen Ampel-Regierungskoalition zur Neuregelung von Selbstbestimmung und Schwangerschaftsabbruch.

Ganz anders, aber nicht weniger deutlich positionierten sich dagegen die Christdemokraten für das Leben: „Als Ausdruck der ʻFreiheitʼ deklariert darf also der geborene Mensch dem ungeborenen Menschen das Recht auf Leben absprechen. Dies ist eine Pervertierung der Freiheit, denn dem Stärkeren wird hier eine absolute Macht über den Schwächeren gegeben, indem er über dessen Existenzberechtigung entscheidet“, sagte deren Bundesvorsitzende Susanne Wenzel. „Das französische Parlament tritt die christlichen und humanistischen Werte, die das Fundament des europäischen Hauses bilden, mit Füßen. Das Tötungsverbot gehörte von jeher zu den Grundsäulen der europäischen Werteordnung.“

Ein Kult um das erfolgreiche Ego

Die nun in der französischen Verfassung garantierte „Freiheit zur Abtreibung“ kann unter ganz normalen, gläubigen Christenmenschen aller Konfessionen und auch unter säkular gesinnten Humanisten, die für die Menschenrechte eintreten, nur für Fassungslosigkeit, Empörung und Entsetzen sorgen, ein Skandal sondergleichen. Doch öffentlich wird es von führenden Politikern als Fortschritt und Signal für eine neue Politik der Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung verkauft.

Doch was ist überhaupt Selbstverwirklichung? Schon Kinder müssen oft, von Erwachsenen auf ihre Pläne fürs Leben angesprochen, Auskunft geben. Die unschuldig anmutende Allerweltsfrage birgt ein beträchtliches Verunsicherungspotenzial: „Was willst du denn später einmal werden, wenn du groß bist?“ Manche geben gängige Antworten wie Modedesigner, Fußballspieler oder Ärztin, andere zucken ratlos mit den Achseln. Eine philosophische Erwiderung lautet: „Ich bin doch schon jemand – warum muss ich denn noch etwas werden?“

Das säkulare Credo der Selbstverwirklichung, der Karriereplan fürs Leben, stuft eine skeptische Gegenfrage als ungehörig ein. Rund 80 Prozent von Befragten aus Deutschland gaben 2012 an, dass ihnen Selbstverwirklichung „wichtig“ bis „sehr wichtig“ ist. Der Kult um das erfolgreiche Ego, um Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung, ist verbreitet und besteht als ein gesellschaftliches Hintergrundrauschen.

 

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Lebensaufgaben finden auch jenseits von Verdienst und Aufstieg

Vorstellbar ist aber auch, dass ein Kind oder ein Jugendlicher auf die Frage „Was willst du denn später einmal werden?“ eine ganz andere, vor allem ganz anders als erwartete Antwort gibt, nämlich: „Ich möchte heiraten, eine große Familie haben und meinen Kindern eine liebevolle Mutter sein.“ Oder ein guter Vater. Wer christlich antwortet, weiß, dass das Familienleben schöner, wichtiger und bereichernder ist als alles, was eine berufliche Karriere mit sich bringt. Unzeitgemäß ist der im besten Sinne geradezu revolutionäre Gedanke, dass nicht die Sorge für die Familie in den Berufsalltag integriert werden muss, sondern dass die Gemeinschaft der Familie das Fundament für ein gelingendes Leben, für echte und wahre Selbstverwirklichung bildet, weil nicht die Karriere im Geschäft, ganz gleich in welchem, die eigentliche Berufung des Menschen darstellt, sondern Mutter- und Vaterschaft.

Andere, denen das Familienleben mit all seinen Herausforderungen nicht geschenkt ist, entdecken im oft rauen Arbeitsalltag ihre besondere Lebensaufgabe, jenseits von allem Verdienst und allen sogenannten „Aufstiegsmöglichkeiten“. Ich erinnere mich an eine Biologielehrerin in mittleren Jahren, die, nach ihren eigenen Kindern gefragt, leise lächelnd sagte: „Eigene Kinder habe ich nicht, aber ganz viele in der Schule.“

Jean-Paul Sartre, 1967

Ein atheistischer Philosoph wie der französische Existenzialist Jean-Paul Sartre hätte das nicht verstanden. In dem Essay „Der Existentialismus ist ein Humanismus“ von 1946 schreibt er: „Der Mensch ist zuerst ein Entwurf, der sich subjektiv lebt, anstatt nur ein Schaum zu sein oder eine Fäulnis oder ein Blumenkohl; nichts existiert diesem Entwurf vorweg, nichts ist im Himmel, und der Mensch wird zuerst das sein, was er zu sein geplant hat, nicht was er sein wollen wird.“

Sartre lehnt den Gedanken des Berufen-Seins ab. Selbstverwirklichung und Selbstbestimmung sind strikt gebunden an die Person. Der Mensch ist das, was er aus sich selbst macht, und somit der Herr seiner Existenz.

So besitzt auch jede schwangere Frau – dieser Ideologie entsprechend – die absolute Verfügbarkeit über ihren Körper, ist also berechtigt und befugt, das ungeborene Menschenleben töten zu lassen, wenn es ihrem Wunsch und Willen entspricht, etwa weil das Kind sie daran hindert, sich selbst zu verwirklichen.

Auch eine Regierungspartei in Deutschland, die FDP, tritt programmatisch für Selbstverwirklichung ein und setzt ganz darauf: „Selbstverwirklichung muss für alle Menschen möglich sein. Die Realität sieht leider viel zu oft anders aus. Wir wollen, dass jeder Mann und jede Frau passende Rahmenbedingungen vorfindet, um das eigene Potenzial voll zu entfalten und das Leben nach eigener Vorstellung zu gestalten.“ Explizit wird hier nicht von Abtreibung gesprochen. Unter den „passenden Rahmenbedingungen“ für Selbstverwirklichung kann aber sehr wohl eine Kinderlosigkeit um jeden Preis verstanden werden. Oder nicht?

Dazu erklärt die FDP unter dem Titel „Bündnis für sexuelle Selbstbestimmung“: „Die Durchführung von Schwangerschaftsabbrüchen wird von der Rechtsordnung unter den Bedingungen der §§ 218a ff. StGB toleriert. Dieser Kompromiss ist das Ergebnis einer langen gesellschaftlichen Diskussion und sollte aus Sicht der Freien Demokraten in seiner Grundkonstruktion auch nicht angetastet werden. Wenn für die betroffene Frau feststeht, dass sie das Kind nicht bekommen möchte, muss es ihr innerhalb der gesetzlichen Frist auch möglich sein, diese Entscheidung umzusetzen.“ Die FDP hält am unbedingten Selbstbestimmungsrecht – und damit auch an einem absolut gesetzten Recht auf Selbstverwirklichung – fest, erklärt aber Abtreibung nicht zu einem Menschenrecht.

„Deshalb fragen sich nun viele immerzu …“

Einen Kontrapunkt in dieser Frage setzt die AfD. In ihrem Programm steht: „Auch ungeborene Kinder haben ein Recht auf Leben. Viel zu oft wird dieses Recht der Selbstverwirklichung oder sozialen Zukunftsängsten untergeordnet. Solchen Ängsten will die AfD durch konkrete Hilfen für Familien in allen Lebenslagen vorbeugen, insbesondere den lebensrettenden Ausweg der Adoption erleichtern und fördern. Die Konfliktberatung muss tatsächlich dem Schutz des Lebens dienen. Wir lehnen alle Bestrebungen ab, die Tötung Ungeborener zu einem Menschenrecht zu erklären.“

Aber in der deutschen Gesellschaft von heute scheint das ungeborene Kind oft ein Ärgernis, eine Last, ein Hindernis für die Selbstverwirklichung zu sein. Der Soziologe Andreas Reckwitz konstatierte vor wenigen Jahren in einem Interview, dass das „Modell der erfolgreichen Selbstverwirklichung“ zur „sozialen Norm“ geworden sei: „Lebe dein Leben möglichst befriedigend! Darin besteht der Lebenserfolg im heutigen Sinne. Deshalb fragen sich nun viele immerzu, ob der Beruf, die Partnerschaft, die Freizeitgestaltung erfüllend sind oder eine Lebensveränderung nötig ist. Das Ideal der Selbstentfaltung ist ja sehr stark mit dem Ideal verbunden, das Leben in der Fülle aller seiner Möglichkeiten zu leben.“

Was hier allgemein formuliert ist, lässt den entsetzlichen Gedanken zu, dass ein ungeborenes Kind als störender Faktor für ein gelingendes Leben angesehen werden kann, eine Person, die dem „Modell der erfolgreichen Selbstverwirklichung“ im Weg steht und darum recht-, ja menschenrechtmäßig beseitigt werden muss. Solches ist für Christen ein eminentes Skandalon.

Lässt sich „Selbstverwirklichung“ auch christlich verstehen?

Lässt sich der Begriff „Selbstverwirklichung“ auch christlich verstehen? Ein Beispiel dazu gibt Klaus Hemmerle (1929-1994), Theologe und Bischof von Aachen, in einem Vortrag, den er 1984 anlässlich des 50. Geburtstags eines Freundes hielt: „Wir sind auch etwas ganz anderes als Selbstsein, als Person, als Geist, als Selbstbestimmung, als Freiheit, als Sich-selber-regeln- und Sich-selber-entwerfen-können. Wir sind Vorgabe, wir sind Fremdes und anderes. Das haben wir nicht nur, sondern das sind wir. Anderes, solches, das nicht wir selbst gemacht haben und nicht wir selbst bestimmen, ragt und reicht in uns hinein.“

Hemmerle äußert Verständnis für jene Menschen, die sich selbst verwirklichen möchten und versucht, ihre Motive zu verstehen: „Ich möchte bestimmen können, ich möchte sagen können, ich möchte machen können, und ich habe Angst, dass da heimliche Mitverwirklicher, heimliche Mitakteure mit im Spiel sind, dass ich manipuliert werde, dass ich von anderen abhängig bin – und das darf nicht sein. Ich will mich verwirklichen.“ Wichtig ist es, diese Ängste wahrzunehmen, ernsthaft zu bedenken und dafür gemeinsam auch nach Lösungen zu suchen.

Zunächst aber ist auch anzuerkennen: Menschen befinden sich in bestimmten Gegebenheiten, die sie sich nicht selbst aussuchen können, gehören einer Nation an, einer Gesellschaft, einer Religionsgemeinschaft, einem Kulturkreis. Die Selbstverwirklichung findet stets eine natürliche Grenze, die „Grenze des anderen“, der nicht in „geheimer Feindseligkeit“ abgewiesen, sondern respektiert und anerkannt werden müsse, der einfach auch da sei:

„Aber was ist, wenn ich die anderen nur noch zum Spielzeug mache? Was ist, wenn ich allein alles bestimmen kann? Was ist, wenn ich mich zum Maß aller Dinge mache?“

Bischof Klaus Hemmerle

Das Konzept der Selbstverwirklichung müsse darum relativiert werden. Hemmerle spricht von der Beziehungsfähigkeit. Eine wesentliche Erkenntnis, für Gläubige wie für säkular gesinnte Zeitgenossen, liegt in der Antwort auf die Frage: Für wen bin ich da? Hemmerle sagt:

„Einem anderen begegnen, das heißt nicht, einer Grenze meiner Selbstverwirklichung oder einer Chance meiner Selbstverwirklichung begegnen, sondern es heißt, einem Zielpunkt begegnen, einem, der selber mein lebendiges Gegenüber ist, so dass ich etwas mit ihm zu tun habe, dass ich etwas für ihn bedeute, dass ich weiß, nichts und niemand begegnet mir umsonst. An allem, was mir begegnet, habe ich mich nicht nur zu bewähren, sondern habe ich zu dienen, ich habe etwas zu bringen, ich kann etwas verändern, ich kann durch mein Dasein, ich kann durch die Weise, wie ich mit den anderen umgehe, diesen anderen etwas bedeuten.“

Zu fragen „Wofür bin ich da, für wen bin ich da?“ wendet die Perspektive

Wer „Selbstverwirklichung“ christlich und auch humanistisch verstehen möchte, denkt vielleicht auch an all das Gute, daran, die Möglichkeiten zu nutzen, die ein Mensch als Talent erhalten hat. Durch Klavierspiel, liebevolles Gärtnern oder durch die Teilhabe am Leben von bedürftigen Mitmenschen etwas Gutes zu tun, zu entfalten, sich im besten selbst zu verwirklichen und dabei bereichernd zu wirken, das erfreut den Tätigen – ob Single oder Familienmensch – selbst, schenkt anderen echte Freude und kann für alle zum Segen werden.

Wenn gefragt werde, „wofür bin ich da, wofür kannst du mich brauchen, was willst du von mir?“, so verwandele sich nach Hemmerle von innen her alles. Das „Modell der erfolgreichen Selbstverwirklichung“ – um den Begriff von Andreas Reckwitz aufzugreifen – und zugleich ein wichtiges Korrektiv gegen den Ungeist der Zeit ist die lebendige Gemeinschaft der christlichen Familie, in der Geborgenheit erfahrbar ist, Fürsorge und Vertrauen gegenwärtig sind und unschätzbar wertvolle Lebenserfahrungen gesammelt werden.

„Ich möchte einmal ein guter Vater, eine liebevolle Mutter sein“

Die Ehe und die Familie – das sind die Orte, an denen sichtbar wird, was wahre Selbstverwirklichung ausmacht und das Leben auf wunderbare Weise bereichert und verschönert: Liebe, Verantwortung und Hingabe. Tugenden wie diese, die mitnichten altbacken und bieder sind, finden sich auch in säkularen Familien, die aber – bewusst oder unbewusst – von der abendländischen Kultur geprägt sind. Auch sie wissen: Vieles, auch die „Selbstverwirklichung“ im Beruf, gehört zum Leben – doch Freundschaften, Beziehungen und Familienbande noch viel mehr.

Es wäre beglückend zu hören, wenn heute und künftig viele Jungen und Mädchen auf die Frage nach ihrem Plan fürs Leben antworten würden: „Ich möchte einmal ein guter Vater, ich möchte einmal eine liebevolle Mutter sein.“

 

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Kommentare

Kommentar
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Michael Breisky
Vor 7 Monate 4 Wochen

Das Wichtigste zu dem Thema hat schon Viktor Frankl gesagt: Selbstverwirklichung findet man im Streben nach etwas, das nicht wieder das eigene Ich ist.

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Michael Breisky
Vor 7 Monate 4 Wochen

Das Wichtigste zu dem Thema hat schon Viktor Frankl gesagt: Selbstverwirklichung findet man im Streben nach etwas, das nicht wieder das eigene Ich ist.