Die Träume der Vernunft gebären Ungeheuer
Der Transhumanismus stellt, ohne es zu wollen und ohne, dass er es wirklich schlüssig zu beantworten weiß, die Frage nach dem Menschen, die Frage nach dem Humanum. Was ist das genau, was überwunden werden soll? Spätestens das positivistische, naturwissenschaftsversessene 19. Jahrhundert konfrontiert die Philosophie und die Ethik mit dem Problem, dass die Entwicklung der Naturwissenschaften und der Technik die Definition des Menschen praktisch verändert.
Wenn man Menschen künstlich durch Maschinen am Leben erhalten kann, wann hört dann das Leben auf, wo endet es, und nur die verlässliche Antwort auf diese Frage erlaubt die Entscheidung, die Maschine abzuschalten, salopp gesagt, den Stecker zu ziehen. Was darf man medizinisch und technisch alles mit den Menschen machen? Das Urteil darüber darf nur derjenige fällen, der weiß, was der Mensch ist.
Nun gehört wohl die Frage, was der Mensch ist, zu den ältesten überhaupt, vielleicht beginnt damit die Philosophie. Auch die Vorstellung, dass der Mensch ein Mangelwesen sei, ist keine Erfindung der Transhumanisten, sondern das Nachdenken darüber das Geschäft der Theologie, der Philosophie, die Darstellung und Erzählung des Mangelwesens der Kunst und Literatur. Allerdings spitzt sich die Frage nach dem Wesen des Menschen zu, wenn seine „Mängel“ behoben und seine Grenzen erweitert werden durch den Einsatz von Wissenschaft und vor allem von Technik.
Der Transhumanismus setzt die Technik an die Stelle der Evolution
Zum ersten Mal spricht im 19. Jahrhundert Friedrich Nietzsche die Überwindung des Menschen an:
„Ich lehre euch den Übermenschen. Der Mensch ist Etwas, das überwunden werden soll. Was habt ihr getan, ihn zu überwinden? Alle Wesen bisher schufen etwas über sich hinaus: und ihr wollt die Ebbe die großen Flut sein und lieber noch zum Tiere zurückgehen, als den Menschen überwinden. Was ist der Affe für den Menschen? Ein Gelächter oder eine schmerzliche Scham. Und ebendas soll der Mensch für den Übermenschen sein: ein Gelächter oder eine schmerzliche Scham. Ihr habt den Weg vom Wurme zum Menschen gemacht, und Vieles ist in euch noch Wurm. Einst wart ihr Affen, und auch jetzt ist der Mensch mehr Affe, als irgend ein Affe.“
Müsste Nietzsche nicht entgegnet werden, es ist gut, dass vieles im Menschen noch Wurm, noch Affe ist? Wäre es nicht mehr in ihm, hätte der Mensch die Natur verloren, die Evolution, das Schöpferische. Der Transhumanismus setzt die Technik an die Stelle der Evolution. Es ist wirklich das Ende des Menschen, wenn er aus der Evolution fällt.
Der Transhumanismus glaubt, dass die erste Evolution den Menschen aus dem Tierreich führt, während die nun anstehende Evolution Menschen überwindet, indem der Mensch selbst zu einer Art Maschine wird oder zumindest Bio-Maschinen erzeugt, Maschinen, die lernfähig sind, eine Künstliche Intelligenz, die eine eigene Evolution besitzt.
Der Soziologe Georg Simmel jedoch betonte:
„Da sich das Leben also nicht aus Elementen vorberechenbar zusammensetzt; da das Spätere nicht bloß eine andere Zusammensetzung des früheren ist, sondern jeder Moment eines Lebens etwas ist, was es so in ihm noch nicht gab – so sind seine Entwicklungen in jedem Augenblick etwas Schöpferisches.“
Künstliche Intelligenzen kennen die metaphysischen Räume der Erkenntnis nicht. Doch wollen wir es uns nicht zu einfach machen. Die Propheten der KI und der Maschinenzukunft, die Verfechter der Überwindung des Menschen, kennen dieses Problem, nur glauben sie, es dadurch zu überwinden, in dem sie Maschinen oder KI schaffen, die lernfähig sind, die sich unabhängig vom Menschen selbst optimieren. Da es „aufgrund ihrer Komplexität nicht möglich ist, Intelligenz zu programmieren“, will man sie „wachsen lassen. Das heißt, dass ein Lernprozess stattfinden muss, eine Entwicklung und Anpassung.“ Man versucht Künstliche Intelligenzen wie menschliche sich bilden zu lassen.
Erneuern bedeutet das Gegenteil von Transhumanismus
Erneuern bedeutet das Gegenteil von Transhumanismus, das Gegenteil von dem entleerten Schlagwort Fortschritt, denn erneuern bedeutet, etwas zu erneuern, etwas, das schon da ist, das nun anders wird, um zu bleiben, was es ist, während Transhumanismus nicht erneuert, sondern überwinden, in vulgo: vernichten will. Der entscheidende Unterschied besteht in der Loyalität, in der Treue zu sich selbst, eben im Erneuern, nicht im Überwinden, der Mensch nicht als Mangelwesen, sondern als Wesen, das, wie Meister Eckhart sagt, alle Freiheit wesenhaft in sich trägt.
Transhumanisten und Postmodernisten rufen frisch vergnügt aus: gute Menschen machen gute Gesellschaften, böse Menschen machen böse Gesellschaften, also lasst uns gute Menschen und eine gute Sprache für den guten Menschen machen, denn der Mensch soll sein, was er spricht, und was er spricht, bestimmen wir. Kein Wort der Sprache mehr, das ohne unsere Approbation verwandt werden darf, verfügen diese Eliten.
Der beste Mensch ist die optimierbare Bio-Maschine. Wer nicht die von uns approbierte Sprache verwendet oder sich nicht der von uns verfügten Impfung unterzieht, gehört nicht mehr zur Gesellschaft, ein Aussätziger, ein Paria, ein Feind der Menschheit, ein Schwurbler, ein Rechter.
Das Leben ist sehr viel mehr als Mathematik
Da jeder Mensch nur in der Gesellschaft existiert, stellt die Freiheit die Bedingung der Existenz des Menschen dar, die seine Individualität schützt, ihn davor bewahrt, in der Gesellschaft aufzugehen. Die Freiheit markiert einerseits die Grenze des Menschen zur Gesellschaft, sie sorgt andererseits dafür, dass Gesellschaft als Gemeinschaft unterschiedlicher Individuen überhaupt sein kann. Somit bedingt die Freiheit erst die Existenz des Menschen als einzelnen und der Gesellschaft als Ganzes.
Doch der Mensch soll kein Werdender mehr sein, sondern er steht zur Disposition, er soll sich nicht entwickeln, sondern einfach überwunden werden, in seinem Denken, seinem Träumen, seinem Hoffen, seinen Freuden und seinem Geschlecht. Er soll zu einer hochtechnisierten Amöbe werden. Der Mensch ist für die Transhumanisten Abstraktum, Gattungswesen, Norm, nicht Einzelwesen, nicht Individuum, nicht Abweichung von der Norm. Vladimir Jankélévitch schreibt in seinem großartigen Buch über den französischen Philosophen Henry Bergson jedoch:
„Der Mensch ist so ganz Freiheit, wie er ganz ein Werdender ist; er ist eine Freiheit auf zwei Beinen, die kommt und geht, redet und atmet.“
Das Leben ist jedoch sehr viel mehr als Mathematik, das Leben macht das Unvorhersehbare, das Andere, der fortwährende Kampf zwischen Chaos und Kosmos aus. Die Chinesen sehen als Urprinzip der Welt Ying und Yang an, die Menschheit unterschied bis jetzt zwischen männlich und weiblich, und selbst die Liebe zum eigenen Geschlecht setzt noch das Geschlecht voraus.
Leben ist keine arithmetische Reihe, sondern das Überlogische, das sich nicht in logische Systeme fassen lässt. Georg Simmel schreibt in einem kleinen Aufsatz:
„Dem Prinzip des Mechanismus, der das Wirkliche aus gegebenen Stücken zusammensetzt, es aus fertigen Voraussetzungen ableitet, im letzten Grunde nur Gleiches wiederholen lässt – ist der Lebensprozess ganz fremd.“
Es ist auf einen Begriff gebracht der freie Wille oder wie Descartes sagt, der liberum arbitrium. Descartes fasst, ohne es zu wissen, den inneren Widerspruch des Transhumanismus präzise, wenn er „Hominem Deum“ und liberum arbitrium aufzählt, ohne allerdings den „Mensch als Gott“ dem „freien Willen“ gegenüberzustellen, denn der (Selbst-)Vergottung des Menschen steht der freie Wille des Menschen entgegen, weil der Mensch in der Selbstvergottung die Freiheit verliert, die darin besteht, nicht allmächtig zu sein. Der allmächtige Mensch ist der unfreie Mensch, denn er wäre nun in der Macht gefangen.
Das ethische Vermögen trottet dem technischen Können hinterher
Sollen Ärzte etwa nicht mehr Leben retten, wo immer sie können, und soll Forschung etwa nicht dieses Können täglich vergrößern? Ist die Menschheit nicht längst schon auf den Weg zur Unsterblichkeit gestoßen wurden, wenn nicht die Natur, sondern der Mensch entscheidet, wo Leben beginnt und wo es endet? Ab wann wäre Abtreibung Mord, ab wann dürfen die lebenserhaltenden Maßnahmen beendet, ab wann dürfen die Maschinen abgeschaltet werden?
Das technische Können der Menschheit stürmt voran, während das ethische Vermögen heillos abgeschlagen hinterhertrottet. Man kann die Vorstellungen des Transhumanismus ablehnen, aber – und darin besteht das Dilemma – man kann nicht die elementaren Menschheitsträume und -sehnsüchte, die zur Identität des Menschen gehören, aus denen transhumanistische Ideen ihren Impuls gewinnen, ignorieren. Wo ist die Grenze? Wie viel Ewigkeit, genauer: wie lange darf Ewigkeit dauern?
Die technischen und wissenschaftlichen Möglichkeiten akzeptieren keine Grenzen, weil man dem Menschen nicht verbieten kann zu forschen. Ein status quo ist so wenig durchsetzbar wie ein Moratorium, weil er dem Wesen des Menschen widerspricht.
Was erkannt werden kann, wird erkannt, was gemacht werden kann, wird gemacht. Ist also die Zukunft, die von den Transhumanisten, die Überwindung des Menschen, zur Mensch-Maschine, zum Roboter-Menschen, zu Vermählung der künstlichen mit der menschlichen Intelligenz, bzw. die Züchtung oder Optimierung neuer Menschen, unausweichbar?
Die Bedeutung der Vernunft
Bisher ging die Rede über die Intelligenz, den Intellekt, den Verstand, nicht aber über die Vernunft. Die Vernunft ist eine Fähigkeit, die von der Tätigkeit des Vernehmens, des Hörens, der sinnlichen Wahrnehmung herkommt, und zu Einsicht und Klugheit führt, während der Verstand eher das Vermögen, zu denken und zu urteilen, beschreibt. Die Vernunft bedient sich des Verstandes, ist jedoch weit mehr als er. Sie beginnt, noch bevor der Verstand einsetzt, und sie endet noch längst nicht, wenn der Verstand sich bereits in Ruhe befindet.
Ist es die Vernunft, die schließlich aus dem Dilemma führt, den Traum vor den Alptraum bewahrt? Der Spanier Francisco de Goya hatte das Gemälde Capricho 43 mit dem Titel „El sueño de la razón produce monstruos“ versehen, das entweder als „Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer“, aber zuweilen auch als „Der Traum der Vernunft gebiert Ungeheuer“ übersetzt wird.
Das Bild zeigt Goyas Oberkörper und Kopf auf dem Tisch gelegt, ihn schlafend. Bei genauerem Hinsehen wird deutlich, dass der Maler bei der Arbeit eingenickt ist, denn auf dem Tisch liegen Griffel, Stifte, während hinter ihm bedrohlich Eulen und andere Nachtgestalten aufsteigen und die Herrschaft über den Raum, über den Schlafenden einzunehmen drohen. Beide Übersetzungen deuten in unterschiedliche Richtungen, denn erwachen die Ungeheuer, weil die Vernunft schläft, oder erwachen die Ungeheuer, weil die Vernunft träumt?
Die Willensfreiheit verachtet die Norm
Im ersten Falle läge ein Akt mangelnder Wachsamkeit vor und würde hinreichend von der Redensart beschrieben werden, dass die Mäuse auf dem Tisch tanzen, wenn die Katze aus dem Haus ist, im zweiten jedoch würde es komplizierter, denn dann brächte nämlich eine träumende Vernunft die Ungeheuer hervor, mehr noch, dann würde die Vernunft selbst die Unvernunft, der Rationalismus den Irrationalismus, der Fortschritt die Reaktion zeugen. Doch selbst, wenn man davor die Augen verschließt, bleibt etwas, was zutiefst menschlich ist, die Freiheit, die von der Vernunft ermöglicht und von der Willensfreiheit verwirklicht wird.
Die Willensfreiheit verachtet die Norm. Sie steht in offener Opposition zur Funktionalisierung des Menschen, sie ist das Kreative, das sich nicht in Algorithmen und in Kommandowirtschaften und in Diktaturen einsperren lässt, das sich nicht dem Konformationsdruck unterwirft. Was Henri Bergson élan vital nennt, nenne ich Willensfreiheit, die Fähigkeit des Menschen, seine Vernunft zu gebrauchen.
Genau dieses hat eine moderne Gesellschaft zu leisten, Wissenschaft und Technik voranzutreiben, doch gleichzeitig sich seiner Endlichkeit bewusst zu seinen, allen Phantastereien von der Überwindung des Menschen, des Sexus, der Marktwirtschaft und Demokratie immer wieder und Tag täglich eine Absage zu erteilen, indem man im vergnügten Wissen um seine Endlichkeit seine Einzigartigkeit nicht im Artifiziellen, sondern seiner Einzigartigkeit durch das moralische Gesetz immer aufs Neue erfährt, denn Faust sagt ja auch: „Wenn Geister spuken geh’ er seinen Gang“, wenn Allmachtsphantasien im Gesellschaftlichen wie im Wissenschaftlichen ihm schmeicheln, sich dennoch seiner Nichtigkeit in der zahllosen Weltenmenge bewusst zu bleiben.
Nachdenken über die Technik
Die Diskussion um den Transhumanismus setzte eigentlich – Hiroshima und Nagasaki vor Augen – mit dem Nachdenken über die Technik ein, mit dem, was man Technikphilosophie nennen kann, mit der Frage, was machen die Menschen mit der Technik und was macht die Technik mit und aus dem Menschen.
Martin Heidegger hat in einem Aufsatz davor gewarnt, das Wesen der Technik allein im Technischen zu sehen. Technikfeindschaft ist töricht, Technikglauben gefährlich, die Technik als Mittel, als Instrumentum, was den Roboter usw. einschließt, zu begreifen vernünftig. Klug ist es, niemals den Ursprung des Wortes, das sich aus dem griechischen Wort techné herleitet, was auch die Kunst einschloss, zu vergessen. Heidegger schreibt in einer der schönen Formulierung, die er gelegentlich findet:
„Je mehr wir uns der Gefahr nähern, um so heller beginnen die Wege ins Rettende zu leuchten, um so fragender werden wir. Denn das Fragen ist die Frömmigkeit des Denkens.“
Teil I des Essays von Klaus-Rüdiger Mai lesen Sie hier.
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So wie die künstliche Intelligenz hochgelobt wird, so wird der angedachte Transhumanismus nie gelingen. Das würde letztlich bedeuten, dass die menschliche Seele in einem Roboter weiterlebt und menschliche Intelligenz übertragbar wäre. Das setzte einen schöpferischen Akt voraus, der dem Menschen trotz der Technik nicht eigen ist. Der Mensch wird um seinen Tod nicht herumkommen. Er wird sich seinem Schöpfer im Gottesgericht stellen müssen. Da kann der Mensch nicht davonlaufen. Die Technik wird maßlos vergötzt und überbewertet. Am Ende zählt nur die Liebe.
So wie die künstliche Intelligenz hochgelobt wird, so wird der angedachte Transhumanismus nie gelingen. Das würde letztlich bedeuten, dass die menschliche Seele in einem Roboter weiterlebt und menschliche Intelligenz übertragbar wäre. Das setzte einen schöpferischen Akt voraus, der dem Menschen trotz der Technik nicht eigen ist. Der Mensch wird um seinen Tod nicht herumkommen. Er wird sich seinem Schöpfer im Gottesgericht stellen müssen. Da kann der Mensch nicht davonlaufen. Die Technik wird maßlos vergötzt und überbewertet. Am Ende zählt nur die Liebe.