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Kolumne „Ein bisschen besser“

Warum wir Deutschen das Augenmaß nicht verlieren dürfen

Wir Deutschen haben ja, nachdem wir es Jahrhunderte lang doll getrieben haben, ein Faible fürs Augenmaß entwickelt. Wir sind nicht mehr diese dröhnenden Hoppla-hier-komm-ich-Typen, die wie der Trump den Globus aus den Angeln heben. Gehen wir mal tanzen, liegt uns auch nicht automatisch der Samba im Blut, sondern dazu brauchen wir eine Tanzschule, und das Ergebnis sieht dann aus, wie Sambatänzer aus Bottrop eben aussehen, die das in der Tanzschule gelernt haben.

Wir finden, der Scholz sollte jetzt nicht so ein Gewese machen, sondern könnte wie andere Leute froh sein, das Rentnerdasein zu genießen. Wir ahnen, dass am deutschen Wesen die Welt nicht genesen wird, weswegen meine Frau Judith und ich eben Verfechter des Augenmaßes sind.

Mein Augenmaß, dein Augenmaß …

Allerdings gibt es Unterschiede im Detail: Ich habe gerade die Breite unserer Fensterbänke geschätzt, ein schönes Stück Holz gekauft und festgestellt, dass ich mich verschätzt habe. Judith hat die neue Sitzecke, die wir neben dem Kamin ins Auge gefasst haben, genau vermessen, dann aber ein falsches Maß bestellt, so dass wir jetzt wahrscheinlich ein Zwergeneckchen geliefert bekommen.

 

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Dass wir beide so Schlag auf Schlag danebenliegen, passiert selten. Meistens kneift Judith von Ferne die Augen zusammen und dirigiert mich mit schweren Gegenständen in der Hand – zwei Zentimeter nach links, das war zu viel, einen halben wieder nach rechts, ja, und jetzt ein Stück höher, genauso halten – die Wand entlang. Am Ende hängt es dann trotzdem schief, weil mein Augenmaß nicht deckungsgleich mit ihrem ist.

Das macht doch den Charme der Sache aus

Ich sage dann stets, dass das den Charme der Sache ausmacht, erkläre umfangreich, dass es sich nicht um Fehler handelt, sondern um Impulse. Ich greife auf Beuyssche Erkenntnisse zurück und spreche vom Fehler in der Kunst, der zur Irritation und damit Reflexion führe. Ja, ich bemühe sogar historische Vergleiche wie die Schlacht bei Austerlitz, wo in der Vorbesprechung im österreichisch-russischen Generalstab nachts um eins der eine oder andere Haudegen bereits eingeschlafen war, weswegen anderntags Napoleon siegte, was an sich ein Gutes war, weil mir ein Bordeaux noch heute lieber ist als ein Tokajer.

Wenn ich so ins Erzählen gerate, sagt Judith, dass mein Ego etwa so groß sei wie mein Schatten und damit bedeutend größer als angemessen, dass ich geradezu ein Schattendasein führte, und es im Übrigen ein bisschen besser sei, ich würde das Ding jetzt endlich gerade hinhängen.

Ich füge mich dann meistens, weil auch hinter mir schon ein Leben liegt, in dem ich es doll getrieben habe und ich davon träume, die nächste Hälfte davon mit mehr Augenmaß zu verbringen. Und zu Weihnachten, so nehme ich mir vor, werde ich Judith vielleicht einen Samba-Tanzkurs schenken.

 

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