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Kolumne „Ein bisschen besser“

Warum ich so ein verdammter Goldmedaillen-Typ bin

Jetzt, wenn die Olympischen Spiele um Medaillen und Millionen beginnen, wird sie wieder eingeteilt, die Welt: in Minuten, Sekunden und Millisekunden. Das Spiel der Griechen, wer der schnellste ist, entfaltet von neuem seinen Bann. Aber Judith und ich sind die Banausen. Wir leben nicht nach dem Stundenglas. Die kleinste Einheit, die wir kennen, ist der Augenblick, die längste eine Ära, und dazwischen gibt es von der Episode bis zur Epoche jede Menge.

„Judith“, frage ich meine Frau, „wo befinden wir uns gerade?“ Sie verengt die grünen Augen zu Schießscharten, ich hätte sie vielleicht nicht heute so früh am Morgen fragen sollen, doch dann sagt sie ganz aufgeräumt: „Im zweiten Kapitel.“

In meiner Schublade liegt ein früh begonnenes Beziehungsdrama

Wie viele Kapitel das Buch denn habe, stellt die große Tochter die entscheidende Frage, auf die es keine Antwort gibt. Ich könnte natürlich sagen, dass alles unter acht ein Fliegenschiss der Geschichte ist und deswegen die Antwort mit der Nummer zwei doch ein bisschen besser sei, weil sie sehr viel Spielraum und Hoffnung nach oben lasse. Aber dann würde ich all die angefangenen Manuskripte von angehenden, aber niemals fertig gewordenen Schriftstellern unterschlagen, die irgendwo in Schubladen herumliegen.

Ich habe auch so eine Schublade. Dort liegt ein früh begonnenes Beziehungsdrama. Es geht so: Eine etwa 44-jährige Frau wacht am Geburtstagsmorgen in ihrem Bett auf, stemmt sich in die Kissen, die Geschenke stapeln sich um sie herum, der Kaffee duftet, aber sie sucht nach dem einen Brief, der an diesem besonderen Tag immer daliegt – seit mehr als zwei Jahrzehnten geht das schon so. Er stammt von ihrer längst verflossenen großen Liebe. Doch heute ist er nicht da …

Ein Augenblick, in dem die Ewigkeit lag

An dieser Stelle bricht mein Manuskript ab. Ich habe mit vielen Menschen darüber beratschlagt, wie es weitergehen soll. Vorwiegend übrigens mit Frauen, die oft allein schon von dem Auftaktkapitel hingerissen waren. Auf diese Weise hat selbst das höchst unfertige Werk mir manchen Dienst erwiesen.

In der WhatsApp-Ära ist es inzwischen etwas aus der Zeit gefallen. Mit Judith habe ich darüber nie gesprochen. Das war nicht nötig. Sie hat mir, als wir uns kennenlernten, einen Augenblick geschenkt, in dem die Ewigkeit lag. Den Goldmedaillen-Augenblick nenne ich ihn bei mir. Das dritte Kapitel kann getrost kommen.

 

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