Gute Eltern sein? „Die meisten können es nicht mehr“
Eines der Spezialgebiete von Psychoanalytiker Hans-Joachim Maaz sind Beziehungen. Jene zwischen Mann und Frau, aber auch jene zwischen Eltern und Kindern. Ging es im ersten Teil des großen Corrigenda-Interviews mit dem erfahrenen Psychiater noch um Angst und die Mediengesellschaft, sprachen wir im zweiten Teil über Beziehungskultur, die richtige Erziehung und die seelischen Bedürfnisse von Kindern. Maaz stellte sich auch Fragen zur psychischen Verfasstheit der West- und Ostdeutschen sowie seiner Position zum Krieg in der Ukraine.
Sie haben im ersten Teil unseres Interviews das Stichwort Beziehungskultur genannt. Was meinen Sie mit Beziehungskultur und wie sieht eine gute Beziehungskultur aus?
Es handelt sich im Wesentlichen um die Fähigkeit und Bereitschaft, sich mit anderen Menschen auszutauschen, mit einem gewissen Regelwerk, also dass man nicht mehr nur Pro und Contra auf der Sachebene diskutiert, sondern persönlicher wird. Dass man sagt: Ich denke so, weil das und das meine Interessen, meine Bedürfnisse sind. In der Beziehungskultur geht es um die Kommunikation, dass ich mich mitteilen kann, nicht nur über etwas – z. B. über Fußball, Politik, Autos – geredet wird, sondern es geht um das persönliche Erleben, Empfinden. Und ich muss mir sicher sein können – so ist die Vereinbarung –, dass der Gesprächspartner versucht, mich zu verstehen, also mich zu empfangen. Das kann man auch üben: Ich teile etwas mit, und der Gesprächspartner sagt, er habe jetzt das und das verstanden, ist das richtig? Jeder hört und sieht meistens immer nur das, was zu ihm passt, und nicht das, was wirklich gesagt worden ist. Das aktive Zuhören ist ganz wichtig. Ziel ist es, das Gefühl zu bekommen: Ich kann mich mitteilen, und ich werde so, wie ich das verstehe, auch empfangen und verstanden – und das wechselseitig.
Und worüber man redet, ist dann zweitrangig, Hauptsache, es ist nichts Oberflächliches?
Nein, man redet von dem, was einem wichtig ist, was einen bewegt, was interessiert. Aber das Gespräch beschränkt sich nicht nur auf Informationen, und es soll kein Kampf um vermeintlich objektive Wahrheiten sein, sondern es geht um subjektives Erleben. Dabei ist eine prinzipielle Einstellung wichtig: Ich kann in dem, was ich mitteile oder denke, auch irren. Ich kann auch selbst das Problem sein. Und ich akzeptiere auch, dass der andere, der vielleicht eine andere Meinung hat, die mir nicht verständlich ist oder die mir nicht gefällt, auch recht haben kann. Es geht um das Bemühen, sich so mitzuteilen, wie man wirklich fühlt, und nicht, wie man glaubt, jetzt denken zu sollen. Also ganz ohne soziale Maske. Das ist auch eines der Ziele in der Therapie, dass Menschen sich öffnen, sich mitteilen und zuhören lernen, das kann eine ganz wesentliche Entlastung bringen, vor allem, wenn man auch Bitteres, Schmerzliches, Peinliches mitteilen kann und Verständnis erfährt und keine Belehrung, keinen Vorwurf, keine Kritik bekommt. Das ist viel wichtiger, als sagen zu können: Das habe ich wieder toll gemacht, oder das hab’ ich mir wieder leisten können, das habe ich gekauft, das habe ich erreicht. Die äußeren Dinge bekommen wesentlich weniger eine Bedeutung als dieses persönliche Erleben.
Aber wenn es keine sozialen Normen und einen gewissen Grad an sozialer Erwünschtheit gibt, sind wir dann nicht eine Ansammlung von individuell Verrückten?
Ich spreche ja gerade von einer grundlegenden demokratischen Norm: Andersdenkende verstehen zu wollen und nicht auszugrenzen! Jeder ist auf seine Weise ein bisschen verrückt. Jeder wird von Eltern, Lehrern und den sozialen Verhältnissen beeinflusst und dabei immer auch von sich selbst entfremdet. Im Bemühen, sich anzupassen, findet jeder seine Privat-Logik. In demokratischen Verhältnissen mit Meinungsfreiheit gibt es millionenfache Privatlogiken, die sich ergänzen, wechselseitig bereichern und auch relativieren. In der Krise einer Gesellschaft besteht die Gefahr, dass Privatlogiken durch Propaganda und Ängstigung zu einer kollektiven Irrationalität verschmelzen.
Dann sind wir in der Normopathie.
Genau, dann sind wir in der Normopathie, und deshalb ist es wichtig, um eine Demokratie am Leben zu erhalten, dass die Meinungsvielfalt und der Pluralismus erhalten bleiben, dass die subjektiven Möglichkeiten nicht eingeschränkt werden, dass die Privatlogiken blühen können, je mehr, umso besser, weil sie sich dann eben auch ausgleichen, ergänzen oder relativieren. Und wenn diese Meinungsvielfalt eingeschränkt wird aus politischen Interessen oder aus ökonomischen, dann wird’s gefährlich für die Gesellschaft.
„Jede Partnerschaft ist eine Arbeitsgemeinschaft“
Die Erfahrung, dass man beim Sichten der Profile anderer Nutzer in sozialen Netzwerken schlechte Laune und Neid empfindet, ist auch in populärwissenschaftlicher Literatur vielfach beschrieben worden. Wie sehen Sie die Auswirkungen der nun schon jahrzehntelangen Benutzung von Facebook, Instagram und anderer sozialer Medien auf die zwischenmenschlichen Beziehungen und unsere psychische Gesundheit?
Wenn Menschen, die herangewachsen sind, beeinflusst sind, manipuliert sind, von sich entfremdet sind, dann suchen sie sich ihre kompensatorische Welt. Der narzisstisch Gestörte, der das Gefühl hat, er sei nicht gut genug und deshalb sei er nicht geliebt worden, der strengt sich jetzt an, um zu beweisen, dass er doch gut sei. Damit kann man erfolgreich sein, aber nicht geliebt werden. Und deshalb ist diese Tendenz zur kompensierenden Leistung immer eine süchtig machende. Aber man kompensiert eben auch durch Ablenkung oder durch Betäubung: Essen, Alkohol, Drogen und Konsum immer, immer mehr, immer mehr, im Grunde ist das die Flucht vor der unerfüllten Sehnsucht nach Liebe.
Und ich bin der Meinung, dass das, was sich durch die sozialen Medien und die Vielfalt der Informationen entwickelt hat, auch eine Drogenwelt ist. Auch die Vielfalt der Informationen entspricht einem Drogenangebot. Man muss sich nur umschauen, wie Menschen die ganze Zeit auf ihrem Handy beschäftigt sind. Man kann im Grunde genommen 24 Stunden am Tag mit irgendwelchen interessanten oder aufregenden oder albernen Informationen gefüttert werden. Nicht ein Stoff macht Menschen süchtig, sondern der Mensch hat eine Suchttendenz, sich zu betäuben, und dann holt er sich seine Mittel ran, dann macht er den Alkohol zum Sklaven seiner Betäubung, oder Medikamente oder eben auch ständige Information, ständigen Handybetrieb, ständige Suche im Internet und so weiter. Das Problem sind dann nicht die Möglichkeiten, sondern wie die Möglichkeiten benutzt werden, was sie kompensieren oder wovon sie ablenken sollen.
Ein weiteres Phänomen, das durch soziale Medien normalisiert wird, ist die promiskuitive Lebensweise. Hat das Einfluss auf die Art und Weise, wie wir heute mit Partnern umgehen und generell auf die Bindungsfähigkeit in längerfristigen Partnerschaften?
Auf jeden Fall. Man kann es einerseits positiv sehen im Sinne von man muss Erfahrungen machen, man muss sich kennenlernen, man muss sich sexuell und erotisch ausprobieren können. Diese Entwicklungsphase nennen wir ja oft auch Pubertät. Gehen wir davon aus, dass viele Kinder nicht so geliebt und bestätigt worden sind, wie sie es zu einem guten Selbstwertgefühl, zu einem gesunden Narzissmus gebraucht hätten – sie einen Mutter- oder einen Vatermangel erlebt haben – und sie dann mit der sexuellen Reife ein Interesse bekommen, anderen Menschen nahe zu sein, sich zu verlieben, dann besteht die Gefahr, dass Liebessehnsucht sexualisiert wird mit der Tendenz promiskuitiver Süchtigkeit. Wobei es zu beachten gilt, dass Verliebtsein und Liebe etwas Unterschiedliches sind. Verliebtsein ist eher eine Krankheit, eine Störung.
Weil man glaubt, mit dem Partner, in den man sich verliebt hat, wird alles gut, wird all das, was Mutter und Vater einem nicht gebracht haben, endlich erfüllt. Aber natürlich kann das nicht gutgehen. Das klappt eine Weile, doch dann kommt die Ernüchterung, und dann bekommt der Partner, die Partnerin, praktisch die ganze Enttäuschung ab, die eigentlich hätte mit den Eltern, mit den Lehrern ausgetragen werden müssen. Um es kurzzumachen: Man kann Sexualitäts- und Partnerschaftsversuche als notwendige, hilfreiche Erfahrung verstehen oder als süchtigen Missbrauch einer Liebessehnsucht.
Warum trennen sich heute so viele Paare? Haben Ehepaare früher nicht mehr Krisen zusammen durchgestanden? Vielleicht auch weil es ökonomisch notwendig war, etwa weil man Kinder bekommen musste, damit man im Alter gesichert ist?
Ja, Sie sagen es, das hatte auch ökonomische, mitunter auch religiöse oder moralische Gründe. Es gab noch strengere religiöse oder moralische Vorschriften, Normen – bis dass der Tod euch scheidet oder unbedingte Treue –, und das hat nachgelassen. Im Gegensatz zu dem schwindenden Bemühen, in der Beziehung auch durch alle Krisen gemeinsam hindurchzukommen, ist auf der anderen Seite die Beliebigkeit gewachsen. Am schlimmsten ist es, wenn man diese Datingseiten sieht, wo man dann nur anhand von Profilen entscheidet, ohne dass man sich persönlich kennengelernt hat, und wenn man eine persönliche Begegnung macht, ist man enttäuscht oder verwundert, weil das gar nicht zusammenstimmt. Und dann sucht man einfach wieder weiter. Ich denke schon, dass es eine größere Zahl gibt von Süchtigen im Onlinedating. Da wird die Beziehung auch entwürdigt im Sinne von: Man will sich gar nicht wirklich kennenlernen, man geht nach äußeren Parametern, wie man aussieht oder was man tut, was man für Geld hat, und nicht nach den Beziehungswerten und der Persönlichkeitsstruktur.
Animiert durch die Möglichkeit, online viele, viele Menschen zu finden, gibt man sich auch die Zeit für Beziehungsarbeit nicht. Das halte ich auch für eine normopathische Folge der bei vielen Menschen angerichteten Identitätsschwäche und -störung, dass man jetzt glaubt, man müsse nur den richtigen Partner finden, der einzig und allein in Frage kommt, aber den gibt’s sowieso nicht. Jede Partnerschaft ist eine Arbeitsgemeinschaft. Ja, man muss sich kennenlernen, man muss sich mitteilen, man muss sich anpassen, muss sich entwickeln, und das braucht Zeit, und diese Zeit nehmen sich heute viele Menschen nicht mehr, weil sie enttäuscht sind, dass das eben auch Mühe macht und auch Selbsterkenntnis fordert.
Warum es ein Schulfach Beziehungsfähigkeit braucht
Wechseln wir von der partnerschaftlichen Bindung zur Mutter-Kind-Bindung. Sie setzen sich für einen höheren Wert von Mutterschaft ein. Wollen Sie zurück in die 1950er Jahre?
Entschuldigung, aber das ist eine unsinnige, falsche oder böse Unterstellung. Denn es ist eine unauflösbare Geschichte, dass der Mensch am Anfang seines Lebens eine gute Mütterlichkeit braucht. Der Mensch wird geboren, und wie er geboren wird, ist schon von großem Einfluss, also auf natürliche Weise oder durch Kaiserschnitt. Und da gibt es schon reichlich Untersuchungen, welche negativen Wirkungen das hat, wenn ein Kind ohne medizinische Not durch Kaiserschnitt geboren wird. Doch im Prinzip geht es darum, dass der Mensch, der ja noch hilfsbedürftig ist, der gar nicht alleine leben könnte, eine möglichst sehr gute, also optimale frühe Betreuung und Versorgung hat. Und da geht es nicht nur darum, ernährt oder gewärmt zu werden, sondern auch um die seelische Zuwendung, also dass ein Mensch angenommen, verstanden, geliebt wird, Empathie erfährt. Eine Mutter sollte bereit und in der Lage sein, sich einfühlen zu können, wie es dem Kind geht, was das Kind braucht, das noch keine Sprache hat, das sich vielleicht nur mimisch, gestisch oder durch Weinen oder Rufen zum Ausdruck bringen kann.
Wie gelingt diese Herstellung zu einer sicheren Beziehung zum Kind?
Das ist in erster Linie die Einstellung zum Kind. In der Hans-Joachim-Maaz-Stiftung Beziehungskultur, die ich leite, bemühen wir uns vor allen Dingen, Eltern zu helfen, ihre Elternschaft zu verstehen, also das, was sie an mütterlichen und väterlichen Fähigkeiten haben. Es geht darum, dass Eltern eine Kenntnis und Fähigkeit entwickeln und erlernen, was ein Kind braucht, und das hat sehr viel mit dem zu tun, was sie selbst in der Kindheit erlebt haben.
Das ist die entscheidende Frage, dass Eltern in der Lage sind, dem Kind das zu geben, was es braucht und nicht nur zu fordern, wie das Kind ihrer Meinung nach sein soll. Das Kind will angenommen sein, will verstanden sein, will bestätigt sein, will geliebt sein. Dazu brauchen die Eltern Empathie, Zeit und Geld. Ich bin der Meinung, dass es sehr, sehr wichtig wäre, dass die Mütter mindestens zwei Jahre, besser noch drei Jahre, zu Hause bleiben können, um das Kind gut betreuen zu können, und das heißt, diese Zeit muss ihnen sozial, sozialpolitisch gegeben werden. Sie müssen finanziell entsprechend unterstützt werden, damit sie das auch können.
Würden Sie so weit gehen zu sagen, dass man heute den Eltern die Elternschaft beibringen müsste? Oder können das die meisten instinktiv doch?
Nein, die meisten können es nicht mehr oder können nur das, was sie eben von ihrem Elternhaus mitbringen. Ich würde Elternschaft für ein ganz wichtiges Schulfach halten. Das Instinktive ist in einer technisierten und digitalisierten Gesellschaft längst verlorengegangen.
Wie würde der Name eines solchen Schulfachs lauten?
Beziehungsfähigkeit, und da würde dazu gehören: Was ist eigentlich mütterlich und was ist eigentlich väterlich? Das ist ja gar nicht an das Geschlecht gebunden. Es gibt Männer, die mütterlich sind, und es gibt Frauen, die väterlich sind.
Was sind mütterliche und väterliche Eigenschaften?
Mütterlich ist: gewähren, ernähren, verstehen, versorgen, beschützen, sich einfühlen, trösten, das sind nicht weiter reduzierbare Werte, die ein Kind braucht, und die haben natürlich am ehesten die Mütter, die das Kind zur Welt gebracht haben, weil die schon eine frühe Bindung während der Schwangerschaft und Geburt aufgebaut haben. Und das Väterliche ist das Kind fördern, fordern, Aufgaben, Pflichten, Verantwortung lehren, Strukturen vermitteln, Risiken einschätzen, Neues wagen, letztlich also von der Mutter weg in die Welt führen. Gute Mütter sind wie der Hafen eines Schiffes, und das „Schiff“ wird vom guten Vater in die Welt, in die Gefahren, in die Aufgaben geführt. Und das gehört zusammen, das ist nicht reduzierbar. Und wenn man jetzt alleinerziehende Mütter oder Väter hat oder Eltern, die homosexuell sind, besteht natürlich auch da die Aufgabe, dass das Kind sowohl mütterlich als auch väterlich betreut wird. Das ist dann eine ganz wichtige Aufgabe, das verstanden zu haben.
„Die DDR war mehr autoritär, repressiv, der Westen ist mehr manipulativ“
Nochmal zurück zu Ihrer Empfehlung, mindestens zwei, besser noch drei Jahre das Kind zu Hause zu behalten: In einer Studie der Universität Dresden heißt es, Kinder, die in Krippen betreut werden, leiden später weniger häufig an psychischen Auffälligkeiten wie der Hyperaktivität. Wer erst mit drei oder vier Jahren in den Kindergarten käme, entwickle fast doppelt so häufig eine solche Störung.
Das halte ich für eine gefährliche Fehlinterpretation! Die tiefenpsychologische und analytische Forschung sagt eindeutig etwas anderes. Es geht darum, dass das Kind am Anfang, und da sind eben in der Regel zwei bis drei, aber mindestens zwei Jahre notwendig, eine gute Bindung für seine Persönlichkeitsentwicklung braucht, und da sind die ersten Beziehungspersonen, also Mutter und Vater von entscheidender Bedeutung. Das kann bei zu früher Fremdbetreuung, wenn in aller Regel viel zu viele Kinder von nur einer Erzieherin betreut werden, nicht gut gelingen. Ab dem dritten Lebensjahr ist der Kindergarten wirklich sinnvoll, weil das Kind jetzt im sozialen Kontakt und Austausch weitere Entwicklungsförderung finden kann. Dann braucht es neue Kontakte, außerhalb der Familie.
Es braucht also zunächst eine Art soziales und psychologisches Fundament.
Ja, und deshalb war die frühere Einteilung in Kinderkrippe und Kindergarten sinnvoll. Das Kind braucht Bindung am Anfang und deshalb keine zu frühe Fremdbetreuung, keine Krippe, und es braucht sozialen Kontakt, wenn es dann herangereift ist, und dann ist der Kindergarten wirklich gut und notwendig.
Zur Person Hans-Joachim Maaz
1943 im sudetendeutschen Nieder Einsiedel, aufgewachsen im sächsischen Sebnitz. Zu DDR-Zeiten studierte Maaz Medizin an der Universität Halle. 1974 wurde er Facharzt für Neurologie und Psychiatrie. Nachdem er bis 1980 eine neurologisch-psychiatrische Abteilung im brandenburgischen Beeskow leitete und den Facharzt für Psychotherapie machte, war er bis zu seinem Ruhestand Chefarzt der Psychotherapeutischen und Psychosomatischen Klinik im Evangelischen Diakoniewerk Halle, wo er eigene Therapieformen entwickelte. Einer breiteren Öffentlichkeit wurde er 1990 durch sein Buch „Der Gefühlsstau. Psychogram der DDR“ bekannt. Als Autor setzte er seither Akzente mit Büchern wie „Die Liebesfalle: Spielregeln für eine neue Beziehungskultur“, „Die narzisstische Gesellschaft. Ein Psychogramm“ oder „Das falsche Leben. Ursachen und Folgen unserer normopathischen Gesellschaft“. Mit seiner Stiftung Beziehungskultur versucht er Menschen in verschiedenen sozialen Beziehungen zu ermutigen, „sich ihrer Geschichte zu erinnern, ihren individuellen Lebensweg zu verstehen, den angemessenen Ausdruck für ihre Gefühle zu erlernen und damit befriedigendere soziale Beziehungen gestalten zu können“. Öffentlich in die Kritik geriet Maaz, weil er die Ausgrenzung von Pegida-Demonstranten und AfD-Mitgliedern ablehnte. Während der Corona-Pandemie solidarisierte er sich mit Demonstranten, die für ein Ende der Maßnahmen eintraten. Maaz ist verheiratet, ist Vater von drei Kindern und lebt in Halle an der Saale.
Sie stammen aus der DDR. Dort gab es sogar Wochenkrippen. Kinder wurden teilweise schon mit sechs Monaten in die Kita gegeben. Wenn Sie recht haben, müsste man das heute ja überdeutlich sehen.
Die Folgen dieser Verhältnisse gehören zu meinem Alltag. Ich habe rund 30 Jahre eine Klinik geleitet und etwa 15.000 Patienten behandelt. Da war nicht einer darunter, der nicht eine solche frühe Problematik hatte, sonst wäre er nicht krank geworden und zu uns gekommen. Ja, das ist ein Riesenthema. Aber der Ost-West-Vergleich ist insofern nicht treffend, nur weil es in der DDR diese Schädigung durch die frühe Trennung gab. Auch im Westen besteht das Problem, wie Kinder in der Frühbetreuung behandelt werden.
Die DDR war mehr autoritär, repressiv, der Westen ist mehr manipulativ, und Kinder werden dann auch auf ihre gesellschaftlichen, politischen, ökonomischen Verhältnisse vorbereitet oder zugerichtet: Sei stark, setz dich durch, behaupte dich, konkurriere gut! Also das Störungspotenzial war ein anderes, aber in der Auswirkung durchaus vergleichbar. Nämlich das, was ich Entfremdung nenne – egal ob autoritär oder manipulativ, und die massenweise Entfremdung führt dann kollektiv in einen Gesellschaftszustand der Normopathie, in der es gesellschaftliche Fehlentwicklungen gibt, die nicht mehr als solche erkannt werden.
Obwohl die deutsche Wiedervereinigung nun schon über 30 Jahre her ist, gibt es immer noch auffällige Unterschiede zwischen den ehemaligen Ländern der DDR und dem Rest der Republik. Ein Beispiel: Eine Sonderbefragung der R+V-Studie aus diesem Jahr ergab z. B., dass die Ostdeutschen deutlich mehr Angst vor einer deutschen Kriegsbeteiligung haben als die Westdeutschen. Auch das Vertrauen in Institutionen ist in den östlichen Bundesländern deutlich geringer. Haben Sie eine Erklärung dafür?
Natürlich wirken immer noch die unterschiedlichen Sozialisationsbedingungen im Osten, das eben angedeutete Autoritär-repressive, der Gehorsam, die Unterordnung, das am Kollektiv orientierte Verhalten und im Westen mehr das Manipulative, setz dich durch und sei egoistisch und so weiter. Das sind beides Sozialisationsformen, die den Menschen belasten bis krank machen. Und jetzt kommt etwas hinzu: Viele Ostdeutsche, die natürlich unter den DDR-Verhältnissen gelitten haben, glaubten, sie würden nach der Vereinigung wesentlich besser leben können. Das hat ungefähr ein Jahr gehalten, und dann kam die große Ernüchterung und Enttäuschung. Und auch der Blick hat sich geschärft.
Dass es im Westen eben nicht nur Bananen gab oder man besser reisen konnte, sondern auch um welchen Preis, welche Veränderungen die Menschen dort mitmachen mussten! Schließlich wuchs damit auch die Distanz zum westlichen Lebensstil. Ich denke, die Ostdeutschen haben viel mehr Erfahrung mit medialen Lügen, mit politischer Indoktrination, mit Denunziation, mit ideologischer Manipulation, und diese Dinge nehmen im Moment wieder zu. Deshalb ist mein Eindruck, die Ostdeutschen sehen im Moment besser die Fehlentwicklung der Gesellschaft – weil sie sie kennen.
„Viele stellten fest, was die kommunistischen Propagandisten erzählt haben, war gar nicht so falsch“
Spricht man mit ehemaligen DDR-Bürgern, hört man oft den Satz: Früher war das Zwischenmenschliche besser. Die Gesellschaft war geeinter. Ist das eine Relativierung des Lebens in einem Unrechtsstaat, die umso blumiger gemalt wird, je länger die Zeit zurückliegt, oder ist da etwas dran?
Da ist was dran. Aber das Wesentliche ist, dass die Kenntnis des Zusammenlebens im Westen dazu geführt hat, dass man das ehemalige Leben in der DDR nochmal ganz anders sieht als damals. Es gab größeren Zusammenhalt in der Not, man hat sich ausgetauscht und ausgeholfen. Man dachte, in der Bundesrepublik ist das Leben besser, und dann hat man es erlebt und festgestellt: Moment, da muss ich mich verbiegen, da muss ich mich anders anpassen, da gibt es viele Gehässigkeiten, viel unfaire Konkurrenzen und so weiter. Und von daher stimmt die Erinnerung für viele. Wir waren im Osten menschlich näher, auch in dem, was man sich mitgeteilt hat, und im Westen hat man erfahren müssen, dass die Menschen oft sehr oberflächlich sind, sehr auf der Symptomebene. Statt ehrliche emotionale Mitteilungen prahlte man, wie toll man sei, was man gerade erreicht habe oder was man wieder gekauft hat. Es gelten mehr äußere Erfolge und weniger die menschliche Beziehungsqualität.
Können Sie sagen, warum die Ostdeutschen ein lockereres, um nicht zu sagen naiveres Verhältnis zu Russland haben als die Bürger vieler osteuropäischer Staaten?
Zu den Unterschieden zu osteuropäischen Staaten kann ich nichts sagen. Aber bei Ostdeutschen sehe ich keine naive, eher eine realistische Einstellung zu Russland. Die DDR-Bürger haben Russisch in der Schule gelernt, sie sind auch etwas vertraut mit russischer Kultur und Literatur, es gab persönliche Kontakte zu Russen auf Reisen und kaum Konflikte mit der sowjetischen Besatzungsmacht im Alltag. Das Bild von Russen als gefährlicher, böser Mensch, als „Untermensch“, konnte mit den realen Erfahrungen überhaupt nicht bestätigt werden.
Also müsste man mehr trennen zwischen der Beziehungskultur zwischen den Menschen und der Beziehung zum Staat?
Genau, und die Beziehung zu den Russen, nun, da galt „deutsch-sowjetische Freundschaft“, auch wenn das viele nicht begeistert hat oder sie das vielleicht nur widerwillig mitmachten. Aber es gibt zumindest eine andere Tradition im Umgang mit den Russen. Sie waren nicht nur Besetzer, sondern auch Befreier vom Nationalsozialismus, sie wurden als der „große Bruder“ stilisiert und als Schutzmacht gegen amerikanischen Imperialismus. Auch wenn das propagandistisch und ideologisch aufgebauscht wurde, konnte eine Verteufelung des „bösen Russen“ nicht wirklich greifen. Und die persönlichen Kontakte auf Reisen in Russland waren überwiegend menschlich sehr positiv. Auf der anderen Seite gab es auch traditionell eine kritische Einstellung zu den USA. Das war Schulstoff, das war auch politische Propaganda. Aber im Nachhinein, mit den realen Erfahrungen westlichen Lebens und eben auch ideologisierten Werten, haben viele festgestellt, was die kommunistischen Propagandisten erzählt haben, war gar nicht so falsch, wenn es um das imperialistische Streben der USA um Weltherrschaft und die vielen Kriege, die sie angezettelt haben, geht.
Auch osteuropäische Länder waren von den Sowjets besetzt. Doch die haben heute ein ganz anderes Verhältnis zu Russland als die Ostdeutschen. Warum?
Das müssen die Historiker klären. Ich kenne die Verhältnisse in Osteuropa nicht gut genug. Ich bin natürlich gegen den Krieg, den Russland gegen die Ukraine führt, aber ich bin auch gegen die Beteiligung der USA und der EU an diesem Krieg. Wenn nicht so viele Waffen geliefert würden, wäre der Krieg schon längst zu Ende.
Dann würde die Ukraine verlieren.
Die Ukraine hat schon längst verloren durch Tausende Tote und große Zerstörungen. Unterstützung durch Waffenlieferungen bedeutet vor allem Tod, schwerste körperliche und seelische Verletzungen und materielle Zerstörung. Als schlimme Alternative zum Krieg wird russische Besatzung angenommen. Aber Krieg oder Besatzung ist keine Wahl zwischen Pest und Cholera, sondern zwischen Tod und Leben. Aus dieser Sicht begreift man, dass geopolitische, ökonomische und ideologische Interessen keine Rücksicht auf Menschenleben nehmen.
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