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Frausein und Muttersein

„Glaubt ihr nicht, so bleibt ihr nicht“

Die Erkenntnis, dass „Sex“ (biologisches Geschlecht) und „Gender“ (gesellschaftliche Geschlechterrolle) zu unterscheiden sind, scheint erst im 20. Jahrhundert gemacht worden zu sein. Aber weit gefehlt. Ein Frühaufklärer, François Poullain de la Barre (1647-1723), hat den Genderdiskurs der Sache nach bereits vor 350 Jahren erkannt und abgehandelt. In seinem Werk „De l’excellence des hommes“ aus dem Jahr 1675 stellte der Philosoph und Priester betreffend die menschliche Natur fest:

„Man darf nur das natürlich nennen, was in der Natur begründet ist, das heißt in der innerlichen und wesentlichen Anlage einer jeden Sache. Was von dieser Art ist, verliert sich nie und findet sich in allen Lebensaltern und Lebensumständen, weil es eine notwendige Folge dessen ist, was wir sind.“

Diesem eng gefassten Naturbegriff stellte er die gesellschaftlichen Konventionen und Vorurteile gegenüber, die veränderlich seien. Es gebe im Umgang der Geschlechter miteinander Dinge, über die man zu einer bestimmten Zeit erröte und die man in anderen Zeiten fröhlich tue. Ein anderes Beispiel für die Zuschreibung von Geschlechterrollen sei die Gewaltlosigkeit. Diese gelte als Zierde der Frau. Sei jedoch ein Mann friedliebend, ruhig und sanft, werde er als weichlich, feige und „effeminiert“ belächelt.

Poullain de la Barre war Cartesianer und vertrat den damit verbundenen Dualismus von Leib und Seele. Die Unterschiede zwischen Mann und Frau sah er allein im leiblichen Bereich, im Aspekt der Fortpflanzung, angesiedelt. Was den Geist betreffe, gelte deshalb: „Der Geist hat kein Geschlecht“. Auf dieser Grundlage vertrat er die Überzeugung, Männer und Frauen seinen von Natur aus intellektuell gleich begabt und zu gleichen Leistungen fähig. Es seien bloß Vorurteile und Gebräuche, aufgrund derer man den Frauen die Bildung verwehre, wie sie Männer genössen. Und es müsse alles als suspekt gelten, was von Männern über Frauen geschrieben worden sei. Denn erstere seien immer zugleich Partei und Richter gewesen.

Rousseau betrachtete Frauen nicht als gleichwertig – und war damit nicht allein

Diese Thesen waren ihrer Zeit so meilenweit voraus, dass sie in der Epoche der Aufklärung nicht auf fruchtbaren Boden fielen. Vor der Gestalt Poullains verblasst noch heute ein Rousseau genauso wie ein Kant. Das Frauenbild des Bürgers von Genf und die Folgerungen, die er in seinem Erziehungsklassiker, dem „Emile“, daraus zog, gereichen ihm nicht zur Ehre.

Jean-Jacques Rousseau hatte zwar in der Frühschrift „Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen“ anerkannt, es sei kein einfaches Unterfangen auseinanderzuhalten, was in der heutigen Natur des Menschen ursprünglich und was künstlich sei. Er übersah dann jedoch später im 5. Buch des „Emile“ die Bedeutung gesellschaftlicher Bedingtheiten und rekurrierte schlicht auf die „Natur“. Alles, was das Geschlecht charakterisiere, müsse als von dieser eingerichtet geachtet werden.

Männer und Frauen seien nicht gleichartig und dürften es auch nicht sein. Letztere müssten zwar viel lernen, „aber nur das, was zu wissen ihnen gemäß ist“. Ihre Vernunft sei bloß eine praktische. Sie erlaube den Frauen, auf geschickte Weise ein Mittel zu finden, um ein Ziel zu erreichen. Das Ziel selbst aber lasse die Vernunft sie nicht erkennen. Die Erforschung der abstrakten und spekulativen Wahrheiten sowie die Axiome der Wissenschaft, ja alles, was darauf hinauswolle, die Vorstellungen zu verallgemeinern, gehöre nicht zu den Aufgaben der Frauen. Ihre Sache sei es, die Prinzipien anzuwenden, die der Mann erforscht habe.

Kant: „Große Gewalt über das andere Geschlecht“

Der vorkritische Kant war zwar weniger unsubtil. Aber in seinen 1764 publizierten „Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen“ schrieb er Sätze, die ihm heutzutage nicht nur den Zorn der „Woken“ einbrocken. Dass es sich für die Frauen nicht zieme, nach Schießpulver zu riechen, wie Männer nicht nach Bisam duften sollten, ist noch harmlos. Aber die Charakterisierung, das „schöne Geschlecht“ habe „ebenso wohl“ Verstand wie das männliche, ergänzte er mit der Bemerkung, der frauliche Verstand sei ein „schöner“, wogegen der „unsrige“ ein „tiefer“ sei.

 

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Und Kant bekannte unumwunden: „Ich glaube schwerlich, dass das schöne Geschlecht der Grundsätze fähig sei“. Ja, die Weltweisheit der Frauen sei nicht Vernünfteln, sondern Empfinden. Deshalb gehe es betreffend die „Ausbildung der Natur“, die Bildung also, nicht darum, durch allerhand Wissen das Gedächtnis der Frauen zu erweitern, sondern ihr „moralisches Gefühl“. Denn mühsames Lernen und peinliches Grübeln würden die Vorzüge „vertilgen“, die dem weiblichen Geschlecht eigen seien.

Frauliches Wissen könne zwar „zum Gegenstand einer kalten Bewunderung“ werden, aber es schwäche die Reize, durch welche die Frauen „ihre große Gewalt über das andere Geschlecht“ ausübten. Kurzum: „Niemals ein kalter und spekulativer Unterricht, sondern jederzeit Empfindungen – und zwar solche, die so nahe wie möglich an ihrem Geschlechtsverhältnis bleiben.“

Nicht mal die französischen Revolutionäre mochten Gleichberechtigung

Die Gleichheit von Mann und Frau fand auch in der Zeit der Französischen Revolution nur wenige Verteidiger. Einer der Autoren, die an Poullain de la Barre heranreichten, war Condorcet. Ähnlich wie sein Vorläufer betonte der Marquis, dass die Gewohnheit die Menschen so sehr an die Verletzung ihrer natürlichen Rechte gewöhnen könne, dass diejenigen, welche sie verloren hätten, nicht einmal eine Ungerechtigkeit empfänden.

In diesem Sinn zog Condorcet – neben Olympe de Gouges – fast als einziger den Schluss aus der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, dass die politischen Rechte fortan auch den Frauen zu gewähren seien. In seinem „Premier mémoire“ über die Bildung aus dem Jahr 1791 forderte er, diese müsse Knaben und Mädchen gleichermaßen und in Koedukation zukommen. Sie könne ihnen zudem von einem Mann oder einer Frau vermittelt werden.

 

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Auch Condorcets Vorstellungen blieben vorerst Vision. Im Oktober 1793 verboten die revolutionären Abgeordneten den Frauen die politische Mitbestimmung. Sie taten es im Gefolge Rousseaus mit dem Argument, die Frauen seien hoher Begriffe und ernsthaften Denkens nicht fähig. Und sie schickten sie buchstäblich zurück an den Herd, von wo aus sie ihre Ehemänner beraten sollten. Bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts war denn auch das Wiegenland der Aufklärung und der europäischen Demokratie politisch eine frauenfreie Zone.

Was Natur und was Kultur ist, ist strittig bis heute

Die Ambivalenz der Aufklärer, die man an diesen Beispielen erkennen kann, auch die Tatsache, dass die wenigsten in der Lage waren, zwischen Natur und Kultur zu differenzieren, prägt heute noch den Diskurs. Was Natur und was Kultur ist, bleibt strittig, verbunden heute mit der entgegengesetzten Tendenz, die Natur zu leugnen.

 

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Angesichts der zeitgenössischen Debatten könnte es nützlich sein, zum Pionier François Poullain de la Barre zurückzukehren. In „De l’excellence des hommes“ vertrat er die Ansicht, es sei nicht notwendig, dass zwei Menschen die gleichen Dinge täten oder sie in gleicher Weise täten, um in der Gesellschaft gleich zu sein. Es reiche aus, dass sie diese Dinge gleichwertig täten. Kinder zu gebären und aufzuziehen sei deshalb mindestens so wichtig wie das, was die Männer täten.

Eine solche Aussage konnte Poullain de la Barre machen, weil er über philosophische Fragestellungen hinausging und die Geschlechterfrage im christlichen Deutungszusammenhang betrachtete. Dadurch konnte er über die Werte des Mutterseins auf der einen Seite und des politischen sowie wirtschaftlichen Reüssierens auf der anderen Seite einen höheren Wert stellen: die Liebe. Gott habe die Welt aus Liebe und um der Liebe willen geschaffen. Die Natur und die Religion lehrten deshalb nichts als diese.

Fortpflanzung ist an Gottes Schöpfungswerk mittun

Das gelte auch betreffend die Fortpflanzung. Gerade durch diese würden die Menschen zu einem Abbild Gottes. Denn wenn sie nach Gottes Gesetzen ihrer Neigung folgten, ahmten sie nach, was wir von Gott als erstes wüssten. Auch der Mensch schaffe etwas aus Liebe von ihm Verschiedenes, das dann von ihm abhänge, aber er nicht von diesem. Und das so Geschaffene bedürfe dann seines Beistands, um bestehen zu können. Das bringe den Menschen dazu, mehr für die ihm anvertrauten Nachkommen besorgt zu sein als für sich selbst.

 

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Diese Hingabe mache den Menschen Gott ähnlich. Und es seien gerade die Frauen, die hierin vollkommener seien. Denn sie seien es, die uns in ihrem Leib formten, uns das Leben gäben, das Wachstum, die Geburt, das Leben und die Erziehung. Das unterscheide sie von den Männern, die zur Entstehung des Lebens nur „en passant“ beitrügen, „wie ein einfacher Regen, der die Erde benetzt, um die Samen wachsen zu lassen, die in ihr eingeschlossen sind“. Deshalb seien die Männer für die Frauen da. Die Natur habe die Männer dazu bestimmt, ihnen zu dienen. Sie habe die Männer auch geeigneter zu körperlicher Arbeit gemacht, damit sie wirkungsvoller ihren Frauen und Kindern dienen könnten.

Vor dem Hintergrund des christlichen Glaubens behauptete Poullain damit gar eine höhere Vollkommenheit der Frauen. Auch wenn man diese These als Gegenpolemik zu jahrtausendelanger Herabsetzung der Frauen lesen kann, ist sie doch Ausdruck einer anders gearteten „Wertetafel“, die herkömmliche Denkgewohnheiten in Frage stellt.

Ohne Gott bleibt nur die Frage nach der Macht

Fällt dieser christliche Verständnishorizont weg, ist der Geschlechterdiskurs allein auf die Machtfrage verwiesen. Es geht dann zwischen Mann und Frau darum, gleich lange Spieße zu haben im Kampf um Kompetenzen, Einfluss, gesellschaftliche Stellung und wirtschaftliche Mittel. Die in den letzten beiden Jahrhunderten entstandene Demokratie, die das kompetitive Element auf die ganze Bevölkerung ausgedehnt hat, akzentuiert dies noch. Und die dem Leistungsprimat verschriebene Wirtschaftsordnung rückt die Erlangung von Macht und Einfluss zuoberst auf die Wertetafel.

 

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Diese beiden Errungenschaften haben zwar nie gekannte Freiheit und Massenwohlstand ermöglicht. Aber sie haben auch die Geschlechterfrage verschärft. Dies ging vor allem zu Lasten der Frauen, denen nicht durch gesellschaftliche Konventionen, sondern durch die Natur – die Biologie – unabweislich eine weit anspruchsvollere Rolle zugewiesen ist betreffend die Weitergabe des menschlichen Lebens. Dies stellt einen Hemmschuh dar im täglichen Wettbewerb um Einfluss und Wohlstand. Sicher wird viel getan, um Chancengleichheit zu fördern. Aber es wird nie genug sein. Dafür sorgen die ehernen Gesetze des politischen und wirtschaftlichen Marktes.

Weil es hier nie letzte Gerechtigkeit geben wird, tut sich ein Dilemma auf. Poullain de la Barre hat es, obwohl er cartesianischer Rationalist war, gelöst, indem er die Geschlechterfrage vor dem christlichen Hintergrund betrachtet hat. Dieser gibt einen anderen Bezugsrahmen vor. Denn der religiöse Blickwinkel relativiert die Bedeutung von Macht, Leistung und Wohlstand, indem er die Gottesliebe und Nächstenliebe zum höchsten Gut erklärt.

Eine neue Sichtweise auf die Geschlechterfrage

Vielleicht könnte jedoch auch säkular bedingt eine neue Sichtweise auf die Geschlechterfrage entstehen. Denn die Erfahrung, die man in Europa, angefangen in Frankreich sowie Belgien und fortgesetzt in Deutschland und Österreich, bekanntlich zusehends macht, ist diejenige, dass Massenimmigration kaum integrierbarer Menschen die Gesellschaft und den Staat in ihren Grundfesten erschüttert. Diese Immigration ist nicht zuletzt eine Folge davon, dass die Frauen in den letzten Jahrzehnten nicht mehr in ausreichendem Maß Mütter sein wollten, weil man ihnen andere Lebensideale vorgestellt hat.

Die gleiche politische und wirtschaftliche Logik, die dafür verantwortlich ist, hat dann durch die Rekrutierung von Menschen, die der westlichen Kultur fremd sind, versucht, die im Humankapital entstandene Lücke zu füllen. Die gesellschaftlichen Kosten dieser Entwicklung sind mittlerweile beträchtlich und werden weiter anwachsen. François Poullain de la Barre hätte angesichts dessen vielleicht die Bibel aufgeschlagen und den Propheten Jesaja zitiert: „Glaubt ihr nicht, so bleibt ihr nicht“.

 

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