Es tut weh!
Ja, es tut weh. Auch wenn ich die Stadt nur aus dem Urlaub kenne, das ist ein Schock. Dass die russischen Staatsterroristen ausgerechnet die Altstadt von „Mama Odessa“, wie sie im Volksmund zärtlich genannt wird, beschießen, schmerzt so besonders. In der Nacht zu Sonntag haben sie auch die Kathedrale kaputtgekriegt. Es ist zum Weinen.
Genau vor zehn Jahren war ich in Odessa. Mit der Eisenbahn im Liegewagen hin, zurück geflogen mit Umsteigen in Warschau. Ein unvergesslicher Urlaub am Schwarzen Meer. Schräg gegenüber der Verklärungskathedrale im Hotel „Пассаж“ (Passage) hatten wir Quartier bezogen mit Blick auf den Kathedralplatz, den Sobornaja Ploschtschad. Das Vier-Etagen-Hotel im opulenten Fin des Siècle-Stil an der Ecke der Deribasowskaja war „doremontnyj“, stand also kurz vor Renovierung, darum konnte ich mir das leisten, so mittenmang zu logieren.
Weitläufige Korridore, vier Meter hohe Decken, durchgelaufenes Parkett, die Badewanne mit Füßchen und nur kaltes Wasser. Aber was soll’s? Warm baden konnten wir im Meer, der Juli war heiß, nur sprach noch niemand davon, denn damals galt Hitze im Sommer als normal.
Scharen gutgelaunter Sommerfrischler auf der Deribasowskaja
Die mondäne Hafenstadt am Schwarzen Meer mit der Potemkintreppe strahlte Leichtigkeit aus, Lebensfreude, Ungezwungenheit. Politik spielte noch nie eine große Rolle, der Puls der Stadt und ihrer Menschen schlug für Handel und Tourismus. Witz und Schalk der Odessiten sind sprichwörtlich, hier war die Heimat der weit über die Grenzen der Ukraine bekannten Satiriker Ilf und Petrow. Einer ihrer „Zwölf Stühle“ aus dem gleichnamigen Roman steht in Bronze an der Deribasowskaja, dem berühmten Prachtboulevard, den in der warmen Jahreszeit Scharen gutgelaunter Sommerfrischler bevölkern.
Als dann im März 2022 Fotos um die Welt gingen, die die Straße durch Panzersperren abgeriegelt zeigten, wirkte das unfassbar, irgendwie irreal, vor allem auch beleidigend, zu was der Kreml die Odessiten zwingt. Panzersperren auf der Derybasiwska! Das passte in etwa so zusammen wie Artilleriestellungen auf dem Petersplatz.
Das Tor zur Welt der unabhängigen Ukraine wirkte auf mich weder besonders ukrainisch noch besonders russisch. Von einer preußischen Prinzessin aus Stettin, nämlich Katharina II. 1794 gegründet, gaben französische und italienische Architekten der Stadt ein westeuropäisches Gepräge. Puschkin besang im Versepos „Jewgenij Onegin“ Freiheit und Ungezwungenheit des bunten Völkchens aus Slawen, Juden, Rumänen und Griechen, das den Neuankömmling nicht nach der Abstammung fragte, sondern nur nach „Was kannst du?“ Noch heute zeugt der Name des Stadtteils „Lustdorf“ vom segensreichen Wirken der Schwarzmeerdeutschen. Dem Reisenden heute begegnet eine große Vertrautheit im Umgang mit Fremden.
Kwas und Schach zu Füßen der Kathedrale
Weil es so schön war, war ich schon das zweite Mal dort zu Gast. Auf dem Kathedralplatz haben wir öfters gesessen, uns von der Sonne bescheinen lassen, aus dem gelben Bottich abgezapftes Kwas getrunken, Eis gegessen und den Schachspielern zugeguckt, die unter einer Überdachung zur Straße hin, von einem Pulk von Freunden, Schaulustigen und neunmalklugen „Tippgebern“ umringt, mit Muße ihrem Spiel nachgingen. Es gab Kettcars auszuleihen, Kinder durften dann ein paar Minuten auf dem Platz zu Füßen des Doms herumfahren und die Taubenschwärme aufscheuchen. Bis spät in die Nacht war dort Leben und Verkehr.
Ein paar Schritte links aus dem Hotel raus, direkt gegenüber der Kathedrale, getrennt durch die belebte Hauptstraße, stand oft eine hagere alte Frau, die bettelte. Weil ich ihr im Vorbeigehen mehrmals etwas gespendet hatte, bat sie einmal, ob wir am nächsten Tag um fünf wieder hier sein könnten? Dann brachte sie uns einige ihrer Habseligkeiten mit, aus Dankbarkeit und wie zum Ausgleich: ein blechernes Schälchen, eine ukrainische Porzellantasse mit dem Motiv eines Rosenzweiges, einen Modeschmuckring sowie einen original verpackten Nagelknipser. Was wohl aus der Dame geworden ist? Die Tasse benutze ich ständig und trinke aus ihr nur Tee, nie Kaffee.
An unserem letzten Tag haben wir das riesige orthodoxe Gotteshaus besichtigt. Das Innere der Kathedrale der Verklärung des Heilands, wie sie unabgekürzt heißt, war nüchtern, weiße Wände, kalter Marmorboden, eine relativ bescheidene Ikonostase. Nur die Unterkirche war ganz und gar ausgemalt mit kostbaren Wandmalereien, ich habe einen geheimnisvollen Blauton in Erinnerung, absolut beeindruckend.
Unter Stalin zerstört, von Ukrainern wiederaufgebaut
Der kahle Eindruck hat eine Ursache: Die Kirche, die wir betraten und die einmal zu den größten des ehemaligen Russischen Reiches gehört hatte, ist eine Rekonstruktion. Das Original war von den Bolschewiken erst geschändet und ausgeraubt und dann unter Stalin 1932 geschlossen worden. Nach dem Motto „Ohne Gott und Sonnenschein bringen wir die Ernte ein“ machten die Kommunisten 1936 das klassizistische Bauwerk dem Erdboden gleich. Dieses bereitete ihnen einige Mühe, weil die Mauern so stark waren. Der Kathedralplatz hieß dann jahrzehntelang Platz der Sowjetarmee.
Doch ohne Sonnenschein und Gott geht die ganze Welt bankrott: Der Wiederaufbau begann in der unabhängigen Ukraine ab 1999 allein mit Spenden und in Windeseile. Zum orthodoxen Weihnachtsfest Anfang 2002 konnte in der Unterkirche zum ersten Mal wieder eine göttliche Liturgie gefeiert werden. 2005 war die Kirche schon wieder fertig. 2010 wurde sie unter großer Anteilnahme der Bevölkerung feierlich geweiht durch Patriarch Kirill. Denselben Kirill, der heute als einer der abscheulichsten Kriegshetzer auftritt und Moskaus Terror geistliche Weihen verleiht. Die Raketen, die von den geistigen Nachfahren Stalins auf die Stadt, ihre Einwohner und Kornspeicher niedergehen, fliegen auch mit seinem Segen.
Vor zehn Jahren: Odessa war eine unbeschwerte, wunderprächtige Stadt, kein Gedanke an Krieg. Aktuelle Bilder nach den Raketenangriffen zeigen Gläubige, die zahlreich vor ihrer stark beschädigten Kirche knien und beten, andere, die den Platz fegen, wieder andere, die Ikonen in Sicherheit bringen. Die Odessiten werden ihre Stadt schöner wieder aufbauen als je zuvor. Als Christen wissen wir: Der Teufel hat keinen eigenen Lehm.
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Das ist ein wahrlich zu Herzen gehendes Meisterstück eines Autors, der das Christen- und Slawentum liebt und schätzt.
Zum Ukraine-Russland-Konflikt möchte ich mich ob des zu geringen Wissens nicht äußern, aber wer gezielt eine Kathedrale beschießt, während er zu Hause einen auf Oberchrist macht, auf dessen Seite stehe ich nicht.
Das ist ein wahrlich zu Herzen gehendes Meisterstück eines Autors, der das Christen- und Slawentum liebt und schätzt.
Zum Ukraine-Russland-Konflikt möchte ich mich ob des zu geringen Wissens nicht äußern, aber wer gezielt eine Kathedrale beschießt, während er zu Hause einen auf Oberchrist macht, auf dessen Seite stehe ich nicht.