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„Saurer Regen“, „ökologisches Hiroshima“ und Co.

Der Mythos vom Waldsterben

Der deutsche Wald steht grün und schweiget, anstatt zu protestieren. Deshalb können Journalisten über ihn behaupten, was sie wollen. Zum Beispiel, dass er stürbe. Anfang der achtziger Jahre ging es los. Das stille Sterben“, titelte der Spiegel. Aber so still war es nicht. Im Gegenteil: Das Waldsterben wurde zu einer der grandiosesten und gigantischsten Kampagnen, welche die deutsche Öffentlichkeit je erlebt hat.

Die gegen Naturschäden resistenteren Franzosen merkten wieder einmal nichts von der rechtsrheinischen Katastrophe, aber sie konnten ihre Sprache um ein Wort bereichern, das ebenso wohlklingend ist wie „leitmotiv“ und ebenso poetisch eine germanische Gemütsverfassung ausdrückt: „le waldsterben“.

Der Horror im Gehölz erwies sich als sprachliche Herausforderung erster Güte. Ihn zu beschreiben, ging schier über die Vorstellungskraft abgebrühter Umweltjournalisten. „Tödliche Pocken“ attackierten die Bäume, ein „ökologisches Hiroshima“ drohte. Der „saure Regen“, so die Theorie, transportiere die schwefelhaltigen Abgase aus Industrie und Verkehr überall hin. In den Waldböden reicherten sich die Schadstoffe an, kein deutscher Baum werde von den Giften verschont bleiben. 1983 stand fest: Binnen höchstens fünf Jahren werde sich das ganze Land in eine kahle Steppe verwandeln.

Der deutsche Wald wächst üppiger denn je

Das Fabelhafte an solchen vollmundigen Prognosen besteht darin, dass es ganz egal ist, ob sie in Erfüllung gehen. Niemandem fällt es auf, niemand nimmt daran Anstoß, wenn sie sich in aller Deutlichkeit als falsch erweisen. Denn fünfzehn Jahre nach dem Beginn der fürchterlichen Forstdämmerung wächst der deutsche Wald üppiger denn je: Die Waldfläche der alten Bundesländer ist seit 1960 um fünf Prozent größer geworden, der Anteil der über 80 Jahre alten Bäume hat sich um 30 Prozent erhöht, und auch der Holzvorrat hat zugenommen – mit 300 Festmetern Holzvorrat pro Hektar gehören Deutschlands Wälder zu den holzreichsten Europas.

Professor Otto Kandler, ehemaliger Direktor des Botanischen Instituts der Universität München, sagt klipp und klar: „Ein allgemeines Waldsterben über das natürliche ‘Stirb und Werde’ hinaus hat nicht stattgefunden und findet nicht statt.“

Mittlerweile ist das Waldsterben selbst gestorben – als Thema in den Medien. Nur ab und zu, meist im Dezember, wenn wieder ein neuer ministerieller „Waldzustandsbericht“ (bis 1988: „Waldschadensbericht“) auf den Tisch kommt, reagiert die Presse noch mit einer müden Meldung. Den Skandal, der darin besteht, dass die Bevölkerung mehr als zehn Jahre lang mit apokalyptischen Artikeln irre gemacht wurde, hat so gut wie kein Vertreter der schreibenden Zunft aufgegriffen.

Doch – einer: 1995 erschien in einem Allgäuer Kleinverlag die Doktorarbeit des Agrar-, Sozial- und Literaturwissenschaftlers Rudi Holzberger, der damit an der Universität Konstanz summa cum laude promoviert wurde und den Preis der Stadt Konstanz für besondere wissenschaftliche Leistungen gewann.

Waldsterben-Publizistik: Fundus aus der 68er-Mottenkiste

Auf 336 engbedruckten Seiten entlarvt er den journalistischen Wahn vom Waldsterben als eine einzige morbide Orgie deutschen Gesinnungskitsches. Das für eine akademische Arbeit reichlich rasant geschriebene Opus verrät in Holzberger nicht nur den Medienpraktiker, sondern auch den Renegaten. In der Tat hatte der Autor als umweltpolitisch engagierter Mitarbeiter von Zeitungen und Zeitschriften einst selbst den Wald nach Kräften totgeschrieben.

Aber dem leidenschaftlichen Waldläufer kamen alsbald Zweifel, die er, statt ihnen mit professionellem Abwehrreflex zu begegnen, produktiv zu nutzen wusste.

So erkannte er, dass die ganze umfangreiche Waldsterben-Publizistik von vorn bis hinten auf Klischees beruht: Die Metaphern, die Motive, die Methoden – alles stammt aus dem Fundus traditioneller Zivilisationskritik, deren linksgewendeter Phänotyp der Nach-Achtundsechziger-Zeit hingebungsvoll das Denkbild der strafenden Natur pflegte und es mit einer aktionistischen Notwehr-Philosophie verknüpfte.

Die Umweltbewegung kämpfte gegen eine übermächtig erscheinende Atomindustrie, die Dritte-Welt-Bewegung sah die armen Länder unausweichlich in der Schuldenfalle der reichen Industrieländer, die Friedensbewegung warnte unentwegt vor dem Atomkrieg. Globale Gefahren lauerten allerorten, und jeweils schien die Uhr auf fünf vor zwölf zu zeigen. Und vor allem die braven Bürger der friedlichen Bundesrepublik zeterten über die gewaltigen Risiken des modernen Lebens.

Lediglich die Neue Zürcher Zeitung betrieb Richtigstellung

Die Rezeption von Holzbergers Erkenntnissen fiel ziemlich dürftig aus. In den Redaktionsstuben sprach es sich zwar alsbald herum, dass man mit dem Waldsterben wohl auf dem Holzweg war, und die Woche, offenbar um engagierte Haltung bis zum Schluss bemüht, erklärte wisserisch und gleichsam nebenbei: „In den vergangenen Monaten hat sich eine bemerkenswerte Koalition aus Biologen, Journalisten, Medienwissenschaftlern und Vertretern der Autoindustrie gebildet, die nachzuweisen sucht, das Verschwinden des Waldes sei nur Klischee einer Generation in Endzeitstimmung.“

Aber gerade dieser Tonfall, der suggeriert, man setze sich mit etwas Altbekanntem auseinander, ist falsch: Die volle Wahrheit über das Waldsterben, die da lautet: Es war nur ein Rauschen im Zeitungsblätterwald, ist kaum je gedruckt worden.

Mit der ihr eigenen Sorgfalt und Gediegenheit zog einzig die Neue Zürcher Zeitung schon 1986 den angekündigten Untergang in Zweifel. Mehr noch, sie konstatierte „Unredlichkeit in der Waldsterbeforschung“ und erklärte: „Unter dem Druck und der Verlockung der Öffentlichkeit haben verschiedene Waldsterbeforscher Daten verbreitet, die inzwischen durch Nachuntersuchungen widerlegt worden sind. Allerdings haben die Widerlegungen bisher kaum Beachtung in der Öffentlichkeit gefunden.“

Die Widerlegungen galten einer Theorie des Göttinger Forstwissenschaftlers Bernhard Ulrich, derzufolge die Luftverschmutzung durch Industrie- und Verkehrsabgase zum „sauren Regen“ führe, der das großflächige Absterben des Waldes, selbst in kaum industrialisierten Regionen, bewirke. Ulrich hatte zunächst nur das 1976 beobachtete Tannensterben erforschen wollen, bezog sich dann aber auf sämtliche Baumarten und sorten.

Seine erstmals 1978 in einer forstwissenschaftlichen Zeitschrift vorgestellte Theorie fand in der Fachwelt geteilte Aufnahme: Widerspruch kam vor allem von der „Freiburger Schule“. Unterstützung fand Ulrich hingegen beim Münchner Forstwissenschaftler Peter Schütt, dessen Statement von da an ebenfalls in keinem Artikel über das Waldsterben fehlen durfte.

Kaum Recherche, dafür plumpe Weiterreichung von Zitaten

Dem Spiegel genügte die graue Theorie allerdings nicht. Aus dem „sauren Regen“ wurde flugs ein „Säureregen“. Die anderen Medien zogen nach, ohne die Behauptungen des führenden Nachrichtenmagazins jemals zu hinterfragen. Die entsprechenden Aussagen von Wissenschaftlern wurden von Artikel zu Artikel in einem endlosen Kreislauf rezykliert. Recherchiert wurde dagegen wenig.

Zitate der Experten Ulrich und Schütt garnierten so gut wie jede Veröffentlichung, während die Meinungen anderer Wissenschaftler einfach nicht vorkamen. „Sogar Fachzeitschriften verweigerten den Abdruck von Beiträgen, die den Tod der Wälder bezweifelten“, erinnert sich Professor Heinz Zöttl vom Freiburger Institut für Bodenkunde und Waldernährungslehre, der gegen die übermächtigen Horrorszenarien der Medien vergeblich mit gesicherten Fakten aufzuwarten suchte.

Der Zusammenhang zwischen dem vermeintlichen Waldsterben und der Luftverschmutzung ist nämlich sehr viel komplizierter. Wie alle Lebewesen sind Bäume anfällig für Krankheiten, die ganz verschiedene Ursachen haben. Schädlinge, Frost, Dürre, Stürme beeinträchtigen das Wachstum, und auch das Alter der Bäume spielt eine Rolle. Gerade in Gebirgsregionen werden Wälder nur selten abgeholzt. Doch Bäume, die älter als 60 Jahre sind, erkranken dreimal so häufig wie jüngere Artgenossen.

Keine Belege zu Zusammenhang von Kronenschädigung und Waldsterben

Problematisch ist vor allem die Art der Schadenserhebung. Dabei wird jährlich zu einer vereinbarten Zeit der Zustand der Bäume, insbesondere der Baumkronen, eingeschätzt. Gradmesser ist ein fiktiver Normalzustand. Bei einem Blatt- oder Nadelverlust von mehr als 25 Prozent gilt ein Baum bereits als schwer geschädigt. Tatsächlich können viele Bäume mit einem derartigen Verlust aber gut leben. Die Messungen beruhen weitgehend auf Luftaufnahmen, bei denen die Kronenverlichtung festgehalten wird. Aber von welchem Verlichtungsgrad an ein Baum als krank zu gelten hat, ist nach wie vor umstritten.

Untersuchungen der Schweizer Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft aus dem Jahr 1994 haben keinen Zusammenhang zwischen Kronenschädigung und dem Waldsterben belegen können. Die Baumsterblichkeit schwankte bei den Schweizer Stichproben zwischen 0,3 und 0,5 Prozent pro Jahr – eine Quote, die ungefähr der natürlichen Absterberate entspricht.

Professor Achim Gussone, Herausgeber der Zeitschrift Forst und Holz, kritisiert, dass bei der Beurteilung der Waldschäden die Befunde unterschiedlicher Baumarten und Wuchsgebiete zusammengerechnet werden. Das Verfahren der Benadelungseinschätzung sei für die flach wurzelnde Fichte eingeführt worden, seine Übertragung auf andere Baumarten führe zu falschen Ergebnissen.

Auch Professor Heinrich Spiecker vom Institut für Waldwachstum in Freiburg hält es für undifferenziert, aus dem Grad der Kronenverlichtung der Bäume auf Schadstufen zu schließen. Für diese Phänomene kämen eine Vielzahl natürlicher und anthropogener Ursachen in Frage. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt sei es jedenfalls nicht möglich, Zusammenhänge zwischen Umwelteinflüssen und Schadsymptomen zu erkennen.

Strenge Winter, nicht Luftverschmutzung, sind verantwortlich

Viele Forstwissenschaftler, die anfänglich ans Waldsterben geglaubt hatten, sind längst davon abgerückt. Fritz Schweingruber zum Beispiel, Professor an der Universität Basel, räumt ein, für die Verlangsamung des Baumwachstums nach 1956 sei der damalige strenge Winter verantwortlich gewesen und nicht die Luftverschmutzung, wie er zuvor behauptet hatte.

Roberto Buffi vom Forstwissenschaftlichen Institut Birmensdorf bei Zürich, hat seine Meinung ebenfalls geändert. Er glaubt inzwischen, dass die Luftschadstoffe vor allem die um Licht und Nährstoffe konkurrierenden Pflanzen des Untergehölzes schädigen und dadurch das Wachstum der Bäume beschleunigen.

Letzteres lässt sich tatsächlich unschwer feststellen: Mag sein, dass es sich hierbei endlich um eine Folge der Luftverschmutzung handelt, denn jene Stickoxide, die Mensch und Tier vergiften, wirken für die Pflanzen als Dünger; jedenfalls wuchert das Holz neuerdings so stark, dass die Förster darin das eigentliche Waldproblem der Gegenwart erkennen. Die Holzvorräte in Europa sind so groß wie nie zuvor, der Absatz des Rohstoffes wird immer schwieriger. Womit wir vom stillen Sterben immerhin zum wilden Wachsen gelangt wären.

 

Bei dem Text handelt es sich – mit freundlicher Genehmigung des Edition BuchHaus Loschwitz-Verlags – um einen Auszug aus dem im Oktober neu aufgelegten Buch von Burkhard Müller-Ullrich „Medienmärchen. Gesinnungstäter im Journalismus – eine Wiedervorlage“. Mit einem Vorwort von Uwe Tellkamp. Verlag Edition BuchHaus Loschwitz, Dresden 2023, 192 Seiten, Klappenbroschur, 19 Euro.

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