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Konservativer Rückzug aufs Land?

Der abendländische Geist manifestiert sich in der Stadt

Die Beziehung konservativer Geister zu den Städten ist nicht gerade eine Liebesgeschichte. Nietzsches Zarathustra will die Städte brennen sehen, in Spenglers „Untergang des Abendlandes“ siecht sich in den Metropolen der Spätzeit jede Kultur als Zivilisation zu Grunde und David Engels predigt in seinem Aussteiger-Brevier „Was tun“ sogar: „Verlassen wir die Großstädte mit ihrer vergifteten Umgebung, welche dem gebildeten Abendländer nur wenig Vorteile bringen, sich dafür aber schnell in wirkliche Menschenfallen für jene verwandeln können, die sich eines Tages zwischen dem Hammer des radikalisierten Pöbels der Banlieues auf der einen Seite und dem Amboß der zum Schutz von Oligarchie und Staatsmacht Eingesetzen Sicherheitskräfte auf der anderen wiederfinden könnten.“

Kann es also so einfach sein? Die Hütte im polnischen Hinterland als hehrer Hort des Abendlands? Oder geht da nicht eine Menge verloren, wenn das große Träumen von einem besseren Europa am Ende eine Anleitung zum Kleingärtnern wird. Und was genau ist an den Städten, dass sie unbewohnbar scheinen? Die Gärten in der Stadt, wo sich auf dem Land Bundesstraßen durch Windparks ziehen? Der Bäcker an der Straßenecke, wo auf dem Land das nächste Brot und die nächste Salamischeibe nur per zehnminütiger Autofahrt zu bekommen sind?

Natürlich machen es sich konservative Stadtkritiker nicht so einfach. Vielleicht unterscheiden sie sogar zwischen einer alt-abendländischen Idealstadt und ihrer modernen Verfallserscheinung als Metropole. Trotzdem: Kann eine Denkschule so einfach diejenige Form des Zusammenlebens ignorieren, in der – eigentlich schon immer – die Gesellschaften der Zukunft gebaut werden? Ist die Stadt schlecht an sich? Oder sind es nicht vielmehr die destruktiven Ideologien, die die Stadt gerade im besonderen Maße in Besitz genommen haben – und die vielleicht einfach nur später aufs Land sickern?

Die Stadt ist der Ort, der dem Menschen angemessen ist

Denn es gibt sie auch, die Liebe zur Stadt als Höhepunkt abendländischer Kultur. An ihrem Anfang steht mit der Ilias ein Werk, das die Eroberung der Stadt Troja (Ilion) so wertvoll erscheinen lässt, dass sich ganz Griechenland über zehn Jahre damit beschäftigt. Aus den Trümmern der Stadt wird Aeneas auf jahrelange Irrfahrten geschickt – nur damit er eine Stadt gründen kann, die Rom wird. Romulus erschlägt Remus, weil dieser den heiligen Rechtsraum der Stadtgrenzen nicht respektiert hat. Denn dort, wo die geographische Abgrenzung fällt, sind es bald auch die Begriffe, die ihre Trennschärfe verlieren – und damit jede Kultur ihren Sinn. Es ist ein Gedanke, der der römischen Kultur so inhärent ist, dass bei jeder Stadtgründung eine „allererste Furche“ („Sulcus primigenius“) mit dem Pflug gezogen wird, die den zeremoniell geheiligten Stadtraum vom profanen Umland trennt.

Denn die Stadt ist der Ort, der dem Menschen angemessen ist. Wenn Aristoteles den Menschen als Zoon politikon beschreibt, dann als das Wesen, das stärker als alle anderen Lebewesen  – „mehr als jede Biene und jedes Herdentier“ – eben auf die „polis“ bezogen ist, „und zwar nicht nur um zu leben, sondern um gut zu leben“.

Die Bedeutung der mittelalterlichen Stadt gießt der Theologe und Thomas-Lehrer Albertus Magnus in eine eigene Theologie der Stadt. In seinem Augsburger Predigtzyklus zur Oktav des heiligen Augustinus entwickelt er vier Merkmale, welche die Stadt definieren: gemeinschaftlicher Schutz (munitio), Einheitlichkeit (unitas), die verfasste Ordnung der Gemeinschaft (urbanitas) sowie die Freiheit (libertas). Ulrich Meier fasst Albertus’ Gedanken zusammen: „Vor den Mauern, warnt der Prediger seine Augsburger Zuhörer, ist das Leben gefährlich, treibt sich unser Feind, der Teufel, herum; dort sollte man sich möglichst nicht aufhalten.“

Die Würde der Stadt

Wie könnte den mittelalterlichen Denkern die Würde der Stadt auch fernliegen?Die Karlssequenz preist Aachen als „urbs Aquensis, urbs regalis, regni sedes principalis, prima regum curia“ (Stadt Aachen, königliche Stadt, Hauptstadt des Königreichs, die erste Residenz der Könige). Das „heilige Köln“ bürgt für eine Weltsicht, in der das Heil dort näher zu sein scheint, wo Mörtel und Stein feste Gotteshäuser bauen als in Wildnis und Wüstung vor den Mauern.

In den Fenstern der Kathedrale von Chartres oder der Sainte-Chapelle scheint sich das Abendland in seiner reinsten und stärksten Form zu zeigen – und das durch die Geschichte hindurch. Wenn Schinkel die Profanität seiner eigenen Zeit kontrastieren will mit einem verlorenen alteuropäischen Ideal, lässt er gotische Kathedralen in seinen Gemälden emporragen – und mit ihnen die Städte, die sie umgeben.

Dürfen wir uns die mittelalterliche Stadt so paradiesisch vorstellen? Sind nicht auch dort schon die Mechanismen vorhanden, die eine anti-urbanistische Kulturkritik immer im Munde führt? Vereinzelung, Auflösung der „natürlichen“ sozialen Ordnungen, Verlust des Zusammenhalts und der Kleinteiligkeit gesellschaftlicher Beziehungen? Diese scheinbaren Probleme sind Herausforderungen für die mittelalterliche Stadt  – aber solche, die sie lösen kann. Und das weitaus besser, als das die heutige Stadt vermag. Vielleicht taugt die Stadt des Mittelalters gerade deshalb als Vorbild für eine Renaissance des abendländischen Stadt-Gedankens?

Ländliches Wohnquartier in Dinslaken: Bildet sich das neue Gemeinwesen zwischen Carports, Gabionen und Windparks – in den menschenleeren Straßen der Neubaugebiete?

Denn: Die Gemeinschaft des Dorflebens gibt es in der Stadt so nicht – dafür bilden sich neue Wege der Organisation heraus. Zünfte und Bruderschaften ordnen Alltag, Arbeit und Sinn. Sie sind flexibler als die agrarischen Lebensformen und meistern die Schwierigkeit, aus diesen hier zusammengewürfelten Menschen ein Gemeinwesen zu schmieden. An die Stelle der Sippe tritt die Kernfamilie, die sich in frei gewählten sozialen Zusammenhängen bewegt. In den Dombauhütten und Tuchmacherwerkstätten, bei den Brauern und Gerbern, bei Lehrlingen und Meistern bildet sich der besondere Geist dieses Kontinents. Es ist ein Geist der Verfeinerung und Verästelung, der Nischenbildung und Spezialisierung. Eine Kraft, die durchaus Herausforderungen bereithält, wenn das Maß fehlt – und vor allem die Einheit der Individuen, die trotz ihrer Unterschiede das Gemeinsame brauchen, ohne das kein Gemeinwesen möglich ist.

Die Antwort auf ländliche Sehnsüchte

Aber baut man die neue Ordnung der Städte, indem man sich aus ihnen verabschiedet? Bildet sich das neue Gemeinwesen zwischen Carports und Gabionen – und in den menschenleeren Straßen der Neubaugebiete? Es sind ja durchaus ehrenwerte Gründe, die Familien aus den Städten aufs Land ziehen. Die Sehnsucht nach Sicherheit, lokaler Verwurzelung und Ruhe ist verständlich – und ja, auch die Sehnsucht nach einer bewussten Komplexitätsreduktion angesichts einer aus dem Ruder laufenden Welt. Trotzdem möchte man auf diese Sehnsüchte manchmal mit einem Zitat aus dem Filmklassiker „Der dritte Mann“ antworten:

In Italien, in den 30 Jahren unter den Borgias hat es nur Krieg gegeben, Terror, Mord und Blut. Aber dafür gab es Michelangelo, Leonardo da Vinci und die Renaissance. In der Schweiz herrschte brüderliche Liebe. 500 Jahre Demokratie und Frieden. Und was haben wir davon? Die Kuckucksuhr!

Es ist die Kultur, die jedes Jahr Abermillionen von Menschen nach Europa zieht. Touristen aus aller Welt wandern durch römische Straßen, über venezianische Brücken und Pariser Boulevards. Ihnen ist klar, dass sich in diesen Städten etwas finden lässt, was einzigartig ist: Es ist der europäische Geist. Sie sehen ihn – wie können wir blind an ihm vorübergehen?

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