Eigentlich dürfte es mich gar nicht mehr geben
Jetzt werde ich am 23. Mai 2024 doch tatsächlich 75 Jahre alt! Ich kann es selbst kaum fassen. Ich hielt mich nie für etwas Besonderes, denn die meisten Staaten dieser Welt haben eine Verfassung. Doch tatsächlich gab es einige Alleinstellungsmerkmale, die mich unverwechselbar machen.
Die meisten Menschen nennen mich „Grundgesetz“. Mein vollständiger Name lautet „Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland“. Neun Monate gingen meine vier Mütter und 61 Väter im Parlamentarischen Rat mit mir schwanger. Es sollte eine schwierige Schwangerschaft werden; die Geburt selber verlief dann kurz und schmerzlos. Doch fangen wir von vorne an.
Alles begann damit, dass meine Heimat nach dem von Adolf Hitler angezettelten Zweiten Weltkrieg von den Alliierten Siegermächten besetzt worden war. Auf der Potsdamer Konferenz im Sommer 1945 teilten sie Deutschland in vier Besatzungszonen ein, und auch die Hauptstadt Berlin wurde in vier Sektoren geteilt. Jeder wollte etwas „vom Kuchen abhaben“.
Meine drei Geburtshelfer
Schon bald verabschiedete sich die Sowjetunion aus dem Reigen der vier alliierten Kontrollmächte, dem Alliierten Kontrollrat. Seit 1947 haben zuerst die USA gemeinsam mit Großbritannien und seit 1948 auch mit der Unterstützung Frankreichs eine politische Lösung angestrebt, wenigstens die Westzonen zusammenzufügen. Nur mit einem politischen Zusammenschluss der Länder konnte auch eine wirtschaftliche und damit soziale Konsolidierung Deutschlands erfolgen.
Meine drei Geburtshelfer aus Frankreich, Großbritannien und den USA haben es nicht nur erlaubt, sondern in den Frankfurter Dokumenten vom Sommer 1948 sogar angeordnet, dass eine Verfassung für Westdeutschland geschaffen wird. Von den Dreien war der Amerikaner Lucius D. Clay der unumstrittene Held dieser Tage. Er hatte, als er über den Großen Teich nach Europa kam, eigens Deutsch gelernt. Er war auch der „Architekt“ der Berliner Luftbrücke, als die Sowjets im Sommer die drei Westsektoren Berlins einschlossen und den Nachschubweg auf dem Lande unterbanden. Clays „Rosinenbomber“ transportierten nicht nur Lebensmittel; sogar ein Elektrizitätswerk wurde per Flugzeug in die eingeschlossene Stadt gebracht.
Sir Brian Robertson entstammte dem britischen Adel. Warum ein erfahrener Soldat und Adeliger wie er ausgerechnet mit der damals stark sozialistisch angehauchten SPD gemeinsame Sache gegen mich machte, werde ich wohl nie verstehen. Dass der Franzose Pierre Kœnig mich verhindern wollte und gegen mich intrigierte, war hingegen nachvollziehbar. Die Franzosen hatten einfach genug von Deutschland. Die Gründung des Deutschen Reiches 1871 im Schloss Versailles und die deutschen Kriegserklärungen an Frankreich von 1914 und die deutsche Offensive vom 10. Mai 1940 steckten noch tief in den Knochen.
Ministerpräsidenten wollten keine Verfassung
Als die alliierten Siegermächte der drei westlichen Besatzungszonen beschlossen hatten, einen deutschen Weststaat zu gründen, hatten sie die Ministerpräsidenten der westdeutschen Länder angewiesen, mich ins Leben zu rufen. Ich sollte eigentlich eine Verfassung werden.
Ich werde es nie vergessen, als man mir erzählte, dass insbesondere Carlo Schmid von der SPD gegen mich war. Er wollte nicht, dass ich eine Vollverfassung werde. Aber mit seiner geradezu sturen Haltung war er in der SPD isoliert. Schmid wollte eigentlich ein Verwaltungsstatut oder gar ein Organisationsstatut. Das bedeutete, ich sollte unvollständig bleiben und möglichst schnell abgelöst werden.
Ja! Die Deutschen wollten mich nicht; sie wollten keine Vollverfassung, ohne den Unterschied einer Verfassung und einer Vollverfassung zu erklären. Und sie wollten eigentlich nur ein Provisorium, das heißt, mit meiner Geburt war zugleich mein Lebensende beschlossen. Ich erhielt ein Verfalls- oder Ablaufdatum, so wie heutzutage Lebensmittel, die ein Mindesthaltbarkeitsdatum erhalten. Bei mir hatte man sich nur vornehmer ausgedrückt: ich sollte meine „Gültigkeit an dem Tage“ verlieren, „an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist“.
Lebendige Naherwartung Wiedervereinigung
Interessanterweise meinten die meisten meiner Väter und Mütter, dass dieser Tag, an dem ich durch eine Verfassung abgelöst werden würde, schon bald einträte, und zwar mit der Wiedervereinigung. Doch schon der erste Deutsche Bundestag stellte in seiner Schlusssitzung 1953 mit großem Erstaunen fest, dass es die Wiedervereinigung immer noch nicht gäbe. Das war meine Chance! Nur so konnte ich überleben.
Übrigens glaubten nur zwei Väter an mich. Theodor Heuss (FDP) und Konrad Adenauer (CDU). Heuss sagte, ich sollte eine Vollverfassung werden und wandte sich damit gegen Carlo Schmid (SPD). Und Adenauer prophezeite am 23. Mai 1949, an meinem Geburtstag, dass ich länger leben würde, als so mancher glauben mag. Zum Glück für mich sollte er Recht behalten.
Wie will man positiv in die Zukunft schauen, angesichts solcher Väter und Mütter, die einem suggerieren, man habe eigentlich keine Zukunft. Thomas Morus hat in seiner „Utopia“ eine Verfassung für die Zukunft vorgestellt. Wie sollte ich zukünftig wirken, wo ich doch selbst als Provisorium nicht mal eine Zukunft hatte.
Meine Eltern fanden für mich den Namen „Grundgesetz“. Nach außen hin wurde der Eindruck erweckt, ich sei keine Vollverfassung. Doch bis heute konnte mir keiner erklären, was eine Verfassung ausmacht, und was davon mir fehlen würde.
Eine unbeachtete Jugend
Die Katholiken im Parlamentarischen Rat kämpften für das Elternrecht, das Naturrecht und eine christliche Staatsauffassung. Damit konnten sie sich nicht durchsetzen. Immerhin gab es, außer den Freiheitsrechten und der Religionsfreiheit, die schon in der Weimarer Verfassung bestehende positive Religionsfreiheit. Der Staat anerkannte die Leistungen und Verdienste der Kirchen und ihrer Einrichtungen wie Universitäten, Fakultäten an staatlichen Universitäten, Schulen, Kindergärten, Krankenhäuser oder Altenheimen.
Naturgemäß erinnere ich mich an meine neunmonatige Schwangerschaft nicht persönlich, sondern bin auf die Erzählungen und Berichte von Historikern und Juristen angewiesen, die sich für mich interessierten. Es schmerzt, wenn man erfährt, dass man eigentlich ungewollt ist.
Sicherlich hat man an meinem Geburtstag stets an mich gedacht. Doch selbst der fand erst nach der Wiedervereinigung Eingang in die offiziellen Kalender als „Verfassungstag“. So richtig gefeiert hat man meinen Geburtstag in den ersten beiden Jahrzehnten nicht.
Erst mein zwanzigster Geburtstag war Anlass, mich mal in einer Vitrine im Bundestag besichtigen zu können. Den Rest meines Lebens verbrachte ich in einem Panzerschrank, feuersicher im Büro des Direktors beim Deutschen Bundestag; der Direktor ist der Verwaltungschef des Parlamentspräsidenten. So wurde der Bundestag die Institution, die mich aufbewahrte und auch auf mich aufpasste. Denn der Bundestag ist es doch, der die Regierung kontrollieren sollte. So richtig habe ich deswegen nie verstanden, warum wiederholt das Bundesverfassungsgericht als der „Hüter des Grundgesetzes“ bezeichnet worden war.
„Im Bewusstsein vor Gott und den Menschen ...“
Persönlich im Parlament anwesend war ich seit Januar 1955, als der Ältestenrat beschlossen hatte, dass beim Einzug des Bundestagspräsidenten der Direktor diesem folgen sollte, mit mir in der Hand. Irgendwann verschwand auch dieser Brauch, und mich holte man nur noch bei Vereidigungen aus dem Panzerschrank.
Artikel 56 enthielt nämlich die Eidesformel. Die benötigte man für die feierliche Vereidigung. Wie hätte es ausgesehen, wenn man eine beliebige Buchausgabe mit meinem Text hochgehalten hätte, um Bundespräsident, Bundeskanzler und Bundesminister auf die Verfassung schwören zu lassen, mit oder ohne „… so wahr mir Gott helfe“. Als ich aber in größerem Maße als Faksimile geklont wurde, durfte ich nur noch bei Vereidigungen von Bundespräsident und Bundeskanzler selbst dabei sein.
Ja, wo wir gerade dabei sind: Gott kommt noch einmal vor. Zu den am häufigsten zitierten Passagen zählt neben Artikel 1 („Die Würde des Menschen ist unantastbar“) vor allem die Präambel: „Im Bewusstsein vor Gott und den Menschen ...“ Klingt das nicht schön … so feierlich!
Ansonsten haben meine Väter und Mütter Pathos stets vermieden. Auch meine Ausfertigung und Verkündung am 23. Mai 1949 war eine schlichte Veranstaltung. Statt einer Feierstunde wurde ich in einer Plenarsitzung ausgefertigt und verkündet.
Da war ja die Eröffnungsfeier des Parlamentarischen Rates, quasi meine Zeugungsstunde, im Bonner Naturkundemuseum Alexander Koenig am 1. September 1948 schon viel feierlicher. Dass die ausgestopfte Giraffe zugeschaut habe, sozusagen als Augenzeugin, ist eine Legende, worüber übrigens erstmals in den Lebenserinnerungen von Carlo Schmid zu lesen war.
Ich bin heute davon überzeugt, dass Clay der wirkliche Held der deutschen Nachkriegsgeschichte war und auch ich ihm meine Existenz verdanke. Er wollte, dass ich auf die Welt komme. Er hat im April 1949 solange auf die CDU und SPD eingewirkt, bis sie sich endlich darauf verständigten, dass ich das Licht der Welt erblicken dürfe.
Theodor Heuss hatte später, als er Bundespräsident war, in einem Interview einmal gesagt, dass von Konrad Adenauer nicht ein Wort stamme. Das stimmt vielleicht, aber das war auch nicht seine Aufgabe als Parlamentspräsident. Dafür erschuf er jene Atmosphäre, in der ich entstehen konnte. Durch sein Verhandlungsgeschick erlangte er ein so großes staatsmännisches Format, dass er deswegen im September 1949, trotz seines hohen Alters von 73 Jahren, zum Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland gewählt wurde.
Wurde die Bundesrepublik am 23. Mai gegründet? Nein!
Heute streiten sich die Gelehrten, ob mit dem 23. Mai 1949 auch die Bundesrepublik Deutschland gegründet worden sei. Ich kann Euch sagen: Nein! Die Bundesrepublik wurde am 7. September 1949 gegründet, dem Tag, an dem sich die Obersten Verfassungsorgane konstituierten, nämlich der Bundestag und der Bundesrat.
Die Alliierten hatten bis Anfang September 1949 alle von ihnen errichteten Einrichtungen, die in Konkurenz zu den Verfassungsorganen der Bundesrepublik stehen könnten, aufgelöst. Erst mit der Konstituierung des Bundestags konnten Bundespräsident und Bundeskanzler gewählt werden.
Im Übrigen erhielt ich eine „ungleiche“ Schwester. Sie sah aus wie ich und war mir absichtlich nachempfunden worden. Sie war ebenfalls auf Blütenpapier gedruckt, in Pergament eingebunden worden und hieß „Besatzungsstatut“. Das Besatzungsstatut hatten die alliierten Außenminister am 10. April 1949 in Washington beschlossen. Es enthielt die Vorrechte und Kontrollmöglichkeiten der alliierten Siegermächte. Das Besatzungsstatut schränkte die Tätigkeiten und Aufgaben der Bundesregierung noch ein wenig ein und trat erst am 21. September 1949 in Kraft, als die am 7. September begonnene Gründung der Bundesrepublik abgeschlossen war, mit der Wahl eines Bundeskanzlers und seines Kabinetts. Schon 1955, als ich sechs Jahre alt war, wurde es außer Kraft gesetzt. Mich aber gibt es immer noch!
Und mir geht es gut. Ich bin in guter Verfassung. Freilich bin ich über die Jahre auch etwas kräftiger geworden. 67 Gesetze hat es bedurft, um so gut dazustehen. Aus 146 Artikeln sind 203 geworden. In der 2. Wahlperiode des Bundestags (1953-1957) erhielt ich eine Wehrverfassung. Mein West-Deutschland schaffte sich eine Bundeswehr an und trat der NATO bei. In der 5. Wahlperiode (1965-1969) hatte die Große Koalition die Notstandsgesetzgebung eingefügt.
In der 11. Wahlperiode (1987-1990) kam es mit der DDR zu einem Einigungsvertrag, dessen wichtigstes Ergebnis für mich war, dass ich weiterleben durfte. Man war mehr als nur zufrieden mit mir. Und ich konnte damit leben, dass in der 12. Wahlperiode wieder einmal an dem Kompetenzenkatalog für Bundestag und Bundesrat einiges zugunsten des Bundestages nachgebessert wurde und nun auch Tierschutz als Staatsziel eingefügt wurde.
Nun freue ich mich auf meinen Geburtstag und danke nicht nur meinen Müttern und Vätern, sondern den vielen Menschen, die mir all die Jahre vertraut haben.
Euer Grundgesetz
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