Die Herren der Krise
Michael Sablatnig, papierweißes Haar, papierweißes Hemd, macht Papier, seit er denken und arbeiten kann. Er lenkt die Geschicke bei Reflex, einem rund 100 Mitarbeiter großen Hersteller besonders feiner Papiere. Seit 160 Jahren liefert die Fabrik im nordrhein-westfälischen Düren feinstes Material für grafische Anwendungen, inzwischen aber auch Profaneres für Verpackungen – und Spezielles, in das sich Lebensmittel so einwickeln lassen, dass das Aroma lang erhalten bleibt. Sogar ein Papier, das Röstrückstände aus der Kaffeeproduktion enthält, ist im Angebot.
Sablatnig und seine Belegschaft stehen mit einem Bein in einer Nische, versorgen die, die fast eine Art Liebesbeziehung zum Werkstoff Papier entwickelt haben. Mit dem anderen Bein stehen sie in einem boomenden Markt, dort, wo Papier als Massenware zum Verpacken verbraucht wird. 10.000 Tonnen produziert Reflex im Jahr.
In diesen Tagen erlebt Sablatnig dabei eine Premiere in seiner langen Laufbahn, auf die er lieber verzichtet hätte: „Unsere Energiekosten übersteigen zum ersten Mal die Personalkosten.“
Deutschland steckt in der „Stapelkrise“
Es ist Krise in Deutschland. Die Energiepreise sind explodiert. Aber Krise heißt im Jahr 2022: Es gibt nicht nur ein Problem, sondern es kommen gleich viele um die Kurve. Massiv steigende Energiekosten, Inflation, Lieferketten, die zum Zerreißen gespannt sind, keine Arbeitskräfte und eine Transformation hin zum Digitalen, die keinen Stein auf dem anderen lässt, die jeden Ablauf berührt.
Berater wie Falco Weidemeyer, Partner bei EY und Restrukturierungsexperte, sprechen inzwischen von einer „Stapelkrise“, wenn sie auf Deutschland schauen. Unternehmerisch komme man kaum hinterher. Die Idee, alle Feuer zu löschen, ist aussichtslos. Früher war es so, erklärt Weidemeyer: „Wenn wir von einer Krise sprachen, dann meinten wir etwas Vorübergehendes, etwas, das man durchstehen muss, meistern kann, überwinden kann.“
Die Ursachen wurden analysiert, bekämpft und der Normalbetrieb wieder hergestellt. Doch das Rezept funktioniert irgendwie nicht mehr. Nicht in der Politik, nicht in der Wirtschaft.
In der Papierindustrie wird das wie unter einem Brennglas sichtbar: Papier ist fast der älteste Datenträger der Welt – und damit eben auch nicht mehr der jüngste. Die Welt verbraucht weniger davon, weil Informationen nicht mehr in Akten, sondern in der Cloud gespeichert werden. Papier herzustellen kostet jede Menge Energie und Wasser.
Stolz verweist die Branche zwar darauf, dass der Verbrauch seit 1955 um gut zwei Drittel reduziert wurde. Dennoch ist der Aufwand beachtlich: Je Tonne müssen mehr als 2.700 Kilowattstunden aufgewendet werden. Das entspricht dem Jahresverbrauch eines Haushalts mit zwei Personen. Gut 26 Terawattstunden hat die Branche im vergangenen Jahr benötigt – damit könnte man fast jeden zehnten deutschen Haushalt ein Jahr lang mit Energie versorgen.
Papier machen können viele, Preissteigerungen beim Kunden durchzusetzen ist entsprechend schwierig. Und schließlich wissen das die meisten, so dass der Beruf des Papiermachers nicht der gefragteste ist. Die Branche plagen Nachwuchssorgen.
Die Walzen dürfen nicht kalt werden
Roter Backstein, vorne ein eigenes Pförtnerhäuschen, ganz hinten ein topmodernes Hochregallager, dazwischen Platz für zehnmal mehr Menschen, als jetzt hier arbeiten: Die Reflex-Papierfabrik in Düren war schon einmal als Filmkulisse für Dreharbeiten in die engere Wahl gekommen. Eine derart intakte Industriearchitektur aus dem vorvergangenen Jahrhundert ist inzwischen rar geworden im Westen Deutschlands. In der Mitte des Industriegeländes thront das hübsche Häuschen der Fabrikleitung, das aber auch schon bessere Tage gesehen hat.
Sablatnig biegt links davon ab und geht hinüber in die Halle. Dort läuft die Papiermaschine, entwässert, presst, trocknet mit Hilfe Dutzender rotierender Walzen. Draußen ist es heiß, in der Halle ist es noch heißer. Wie bei Zementwerken und Glasproduzenten läuft auch bei den Papierherstellern die Fertigung ganzjährig und rund um die Uhr. Reflex produziert hier im Drei-Schicht-Betrieb. Am besten wäre es, wenn die Walzen niemals kalt werden.
Unternehmens-Chef Sablatnig kennt die Zahlen dahinter, die Energiekosten, die Personalkosten, die Ausgaben für Wartung und Vertrieb und die Einnahmen. Seine Devise könnte lauten: Bange machen gilt nicht. Wie zum Trotz führt er seine Besucher an eine verschlossene Gittertür, fingert nach dem Schüssel und tritt in das, was die Schatzkammer der Dürener Fabrik sein könnte: Hier liegen die Walzen, in denen die Wasserzeichen eingeprägt sind, die dem Papier das gewisse Etwas verleihen, das sich der Kunde wünscht: Römerturm zum Beispiel oder Gohrsmühle.
Marken, die bei Papierliebhabern die Wangen erröten lassen, kommen von hier. In einem anderen Regal lagern seltene Walzen: eine mit arabischen Koranversen, eine mit feudalem Wappen. Die Dürener schützen ihre Nische: Der Notar wechselt nicht mal so eben sein Dokumentenpapier, nur weil es teurer geworden ist. Der Zeichner schätzt die zig verschiedenen Tönungen von Weiß in Verbindung mit genau dem richtigen Widerstand, den das Papier gegenüber einem Bleistift liefert, der darüber hinkratzt.
Künstler brauchen den richtigen Malgrund für Acryl, Aquarell oder Kohlestift. „Unser Vorteil: Mit unserem breiten Maschinenpark und der moderaten Größe des Unternehmens können wir flexibel auf kleine und große Kundenwünsche sowie Marktbedürfnisse reagieren“, sagt Sablatnig. In Düren liefern sie das Besondere, und die Kunden zahlen dafür.
Die „Gegenseite der Transformation“
Kommt Deutschland, immerhin eine der größten Exportnationen der Welt, als Nischenfabrikant aus dieser Krise? Noch einmal Sanierungsexperte Weidemeyer: Krise lasse sich als „Gegenseite der Transformation“ begreifen, sagt er. Sie stehe im Kontext einer tiefgreifenden unternehmerischen und gesellschaftlichen Veränderung. „Entscheidungen müssten ganzheitlich auf Basis finanzieller, ökologischer, sozialer und geopolitischer Kriterien getroffen werden.“
Was heißt das? Möglicherweise funktioniert doch eine bewährte Management-Methode. Sie geht so: Einen Schritt zurücktreten und fragen: Was wollen wir langfristig erreichen? Die Antwort: Wir wollen mit immer nachhaltigeren Methoden unseren Wohlstand sichern. Das wäre eine sinnvolle Strategie, und es besteht kein Grund, in einer Krise davon abzuweichen, selbst wenn die Umstände verwickelter sind, als sie vorher erschienen.
Diese Maßnahmen sind jetzt nötig
Drei Anstrengungen sind dafür nötig: Erstens müssen Bürger und Unternehmen alle Wege nutzen, um Transformation zu Hause und im Betrieb voranzutreiben. Mit Blick auf die Energiekosten heißt das zum Beispiel: Sparen und wo möglich modernste Systeme einsetzen. Zweitens sollten wir uns nicht ständig vor eventuellen künftigen Problemen gruseln. So konstruieren wir in wackligen Zeiten schnell zusätzliche Hürden, die dann auch tatsächlich im Weg stehen. Und drittens ist es Aufgabe des Staates, da einzuspringen, wo der Übergang nicht aus eigener Kraft in der nötigen Geschwindigkeit gelingt. Die Politik ringt darum. Sie wird aber nicht überall einspringen können.
Der Mittelstand in Deutschland, traditionell die wichtigste Ressource in der Wirtschaft, macht vor, wie es geht: Die Maschinenfabrik Berthold Hermle zum Beispiel aus Gosheim bei Tuttlingen. Der Auftragseingang wächst, Umsatz und Gewinn auch. „Störungen in der Lieferkette konnten weitgehend durch interne Maßnahmen kompensiert werden“, die von den rund 1.300 Mitarbeitern „sehr gut und schnell umgesetzt wurden“, heißt es aus der Führungsetage anlässlich der jüngsten Bilanzzahlen.
Die Schwaben sind damit ein Beispiel, dass die Krise zwar Unsicherheit verbreitet, die Basis aber stabil bleibt und dank einer hohen Exportquote von den wackligen Zukunftsaussichten weniger in Mitleidenschaft gezogen wird. Sie sind ein Beispiel für Deutschland.
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