Friedenstauben in Panzern
Man fühlt sich ein bisschen, als wäre man in ein Buch von Lewis Carroll gestolpert, den Schöpfer von „Alice im Wunderland“. Nichts ist so, wie es scheint. Was man als gegeben betrachtet hat, gilt nicht mehr. Das ist mal bezaubernd, mal verstörend. Derzeit allerdings eher zweiteres.
1989 haben die Schweizerinnen und Schweizer über die Abschaffung der Armee abgestimmt. Nicht über eine Reform. Nicht über eine Reduktion. Sondern über die Abschaffung. Ein weltweit einmaliger Akt. „Die Schweiz hat keine Armee“ hätte es in der Bundesverfassung bei einer Annahme der Volksinitiative geheißen.
So weit kam es nicht. Für einen Donnerschlag reichte es aber allemal. 35,6 Prozent der Stimmberechtigten sagten Ja. Jeder Dritte. Zu einer Zeit, als der „Kalte Krieg“ zwar ein Ausläufer, aber noch aktuell war. Zu einer Zeit, als die Armee in der Schweiz noch als heilige Kuh galt. Pazifisten und Linke feierten die Niederlage wie einen Sieg. Es war ja auch einer. Damit hatte niemand gerechnet. Seither kann man über Armeebelange debattieren, ohne stigmatisiert zu werden.
Je linker, desto lauter der Ruf nach Waffen
Über 30 Jahre danach ist es nun Zeit für Alice im Wunderland. Nichts gilt mehr. Die Linken im eidgenössischen Parlament haben ihre Liebe zu schweren Waffen entdeckt. Und ihre Faszination für den Krieg. Sie wollen der Ukraine im Krieg gegen Russland helfen. Nicht mit Friedensgesprächen im Rahmen der Neutralität. Nicht mit humanitären Einsätzen. Sondern am liebsten mit schwerer Artillerie.
Aktuell gilt: Je linker und pazifistischer einer einst war, desto lauter ruft er jetzt nach der bewaffneten Auseinandersetzung. Wer sich in einen solchen Spagat begibt, muss uns und sich selbst das erklären können. Die Ansätze dazu sind äußerst kreativ.
Franziska Roth, für die Sozialdemokratische Partei im eidgenössischen Parlament, sagt beispielsweise, dieser Krieg sei eben anders als andere. Hier wisse man genau, wer der Aggressor und wer das Opfer sei – und deshalb dürfe die Schweiz auch Partei ergreifen. Sie möchte Kriegsmaterial an die Ukraine liefern dürfen, was heute untersagt ist.
Es ist ein seltsames Argument. Gibt es wirklich so viele Kriege, in denen völlig unklar ist, wer Täter und wer Opfer ist? Und ist das im aktuellen Fall einfach so in Schwarzweiß zu zeichnen? Welches Verständnis von Neutralität steckt dahinter? Neu bedeutet diese also: Die Schweiz ergreift in einer Auseinandersetzung niemals Partei – außer, wenn ihr eine Seite sympathischer ist als die andere. Eine „flexible Neutralität“ gewissermaßen, in der die Ausnahme die Regel ist?
Taschenspielertricks vor den Augen der Welt
Sogar Kunstgriffe werden diskutiert. Wenn man schon keine Waffen, Panzer und Munition an eine Kriegspartei liefern darf, dann lasst uns diese Dinger doch an ein unverdächtiges drittes Land liefern, das es dann danach weitergibt. Ein Taschenspielertrick, aber nicht etwa versteckt, sondern vor den Augen der Welt. Auch dieser Vorschlag kommt von links. Von den Leuten, die einst wollten, dass das Land gar keine Waffen, Panzer und Munition mehr hat.
Hinter der ganzen Debatte steckt weit mehr als ein bloßer Entscheid darüber, ob Panzer, die in der Schweiz nur ungenutzt herumstehen, Richtung Ukraine verschoben werden sollen. Es geht um die Frage, was dem Land wichtig ist. Immer wieder hört man das Argument, man müsse nun aktiv werden, denn die restliche Welt verstehe die Position der Schweiz nicht. Rund um den Globus könne man den Menschen die neutrale Haltung des Landes und den Verzicht auf Unterstützung der Ukraine nicht verständlich vermitteln. Die Weltkugel schüttelt den Kopf. Wir müssen ihr deshalb den Gefallen tun und das machen, was sie erwartet.
Das klingt nicht nach einem souveränen Nationalstaat, sondern nach einem Unternehmen, das versucht, via Marketing das Image zu korrigieren. Was kümmert es die Schweiz, ob jemand in Washington, Brüssel, Berlin oder London begreift, was sie antreibt? Und wenn man sich darüber schon ernsthaft Gedanken macht, warum versucht man dann nicht, die eigene Position zu erklären? Die wichtige Rolle eines neutralen Staates in einer Welt, in der fast alle zu irgendeiner Seite gehören?
Schießen für den Frieden?
1989 war ich 17 Jahre alt und wollte ebenfalls die Armee abschaffen. In meinem Zimmer hing ein Poster mit dem Konterfei von Che Guevara, und auf dem Pult stapelte sich neben den Hausaufgaben das Propagandamaterial der sowjetischen Botschaft in Bern, das ich regelmäßig bestellte. Heute weiß ich, welcher Unmensch Che Guevara war und wie irregeleitet die Idee des Kommunismus ist. Ich habe dazugelernt.
Ich stehe zu dieser Wandlung. Sie verlief organisch und über viele Jahre. Aber die Linken, die einst die Welt von Waffen befreien wollten und heute Tötungsmaterial in die Ukraine liefern wollen, haben diese Entwicklung nicht hinter sich. Sie haben bis Februar 2022 so getan, als wären ihre Ideale immer noch dieselben. Und nun, nicht einmal ein Jahr später, erklären sie uns, ihre Forderung nach Waffen aus der Schweiz stünde im völligen Einklang zu ihrer Liebe zum Pazifismus. Als wären Panzer die logische Fortsetzung ihres Traums nach einer Welt ohne Waffen.
Schießen für den Frieden: Nicht mal Lewis Carroll, dessen Phantasie nun wirklich grenzenlos war, wäre das eingefallen.