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Kolumne „Der Philosoph“

„Wer ich bin, weiß nur ich selbst!“

Vor ein paar Tagen sah ich im Netz ein Werbebanner des Familienministeriums, auf der das geplante „Selbstbestimmungsgesetz“ mit den Worten beworben wurde: „Wer ich bin, weiß nur ich selbst!“ Über dieses Gesetz, das den Bürgern in Zukunft ermöglichen soll, über ihren offiziellen „Geschlechtseintrag“ durch bloße Selbstauskunft zu entscheiden, soll es hier aber nicht gehen. Was mich interessiert, ist, ob die Behauptung: „Wer ich bin, weiß nur ich selbst“ überhaupt wahr ist.

Zunächst könnte man geneigt sein, diesem Satz zuzustimmen. Wir scheinen für gewöhnlich der Überzeugung zu sein, dass wir nie mit Sicherheit wissen können, was in den Köpfen und Herzen anderer vor sich geht. Die meist unausgesprochene Ergänzung dazu lautet: Letztlich kennt jeder nur sich selbst.

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Zweifellos haben wir im Vergleich zu Außenstehenden einen privilegierten Zugang zu unseren Gedanken und Gefühlen. Schließich sind es ja unsere Gedanken und Gefühle. Andere müssen erst anhand unserer Handlungen und Äußerungen, mittels Mimik und Gestik, ablesen, wie es in unserem Inneren aussieht.

Wir täuschen uns ständig über uns selbst

Aus all dem folgt allerdings nicht, dass wir, was unsere eigene Gedanken- und Gefühlswelt betrifft, unfehlbar und allwissend wären. Wir täuschen uns vielmehr ständig über unsere wahren Absichten, Eigenschaften, Wünsche und Leidenschaften. Mal unterlaufen uns bloß Fehler in der Selbstwahrnehmung, mal tragen wir – mehr oder weniger bewusst – aktiv zu ihnen bei: Wir betreiben Selbsttäuschung, weil wir nicht wahrhaben wollen, wie es um unser Inneres in Wirklichkeit bestellt ist.

Wie häufig kommt es vor, dass ein kurzlebiges Verknalltsein fälschlicherweise für unsterbliche Liebe gehalten wird, während ein tiefes Liebesverhältnis, das sich von den Schwankungen heftigster Leidenschaften befreit hat, als ein Abkühlen der Beziehung missdeutet wird! Wer hat sich nicht schon für klüger, schöner und talentierter gehalten, als er wirklich ist? Oder umgekehrt für dümmer, hässlicher und nutzloser, als es der Realität entspricht? Wie zahlreich sind die Fälle, in denen sich ein jähzorniger Familientyrann selbst einen ausgeglichenen und friedfertigen Charakter attestiert?

In all diesen und zahllosen weiteren Fällen kann das Subjekt sich über sich selbst täuschen, während für Außenstehende der Fall sonnenklar ist. Die Behauptung, der Einzelne wüsste ohne Weiteres, wer er selbst ist, andere hingegen seien ahnungslos, entpuppt sich bei näherem Hinsehen also als blanker Unsinn.

Ohne Wesen gibt es auch nichts zu erkennen

Eine weitere Ungereimtheit im Zusammenhang mit der Maxime „Wer ich bin, weiß nur ich selbst!“ ist, dass sich in aller Regel diejenigen auf sie berufen, die auch an die grenzenlose Selbstbestimmung des Menschen glauben. Dabei handelt es sich im Grunde um die vom französischen Existenzialismus und insbesondere von Jean-Paul Sartre formulierte Idee, der Mensch hätte keine vorgegebene Natur, kein Wesen, sondern könnte seine Identität frei selbst erzeugen.

Hier ist aber das Problem: Der Gedanke, nur ich wüsste, wer ich wirklich bin, folgt einer Logik des Entdeckens, wohingegen die These von der grenzenlosen Selbstbestimmung einer Logik des Erfindens verpflichtet ist. Diese beiden Logiken schließen sich gegenseitig aus: Wenn der Mensch kein ihm vorgeordnetes, zu entdeckendes Wesen hat, dann gibt es beim Blick nach innen für ihn auch nichts zu erkennen. In diesem Fall müsste er seine Identität tatsächlich erfinden, konstruieren. Beides zugleich – Erfinden und Entdecken – ist aber nicht möglich. Die Idee der grenzenlosen Selbstbestimmung und die These vom subjektiven Exklusivzugang zur eigenen Identität sind nicht miteinander vereinbar.

Selbsterkenntnis ist möglich, aber fehlbar

In Wirklichkeit ist Selbsterkenntnis wie jede Art von Erkenntnis möglich, aber fehlbar. Beides – die Möglichkeit wie die Fehlbarkeit – ergibt nur Sinn, wenn es objektive Wahrheiten gibt, die nicht nur wir selbst, sondern auch andere über uns entdecken können. Die Existenz einer vorgegebenen objektiven Wahrheit bedeutet außerdem, dass unserer Selbstbestimmung faktisch Grenzen gesetzt sind.

Der entscheidenden Freiheit des Menschen, sich zu diesen Fakten zu verhalten, tut das allerdings keinen Abbruch, sondern macht nur deutlich, wie eng unsere fehlbare Selbsterkenntnis mit wahrer Freiheit verknüpft ist: Nur wenn wir uns selbst so erkennen, wie wir wirklich sind, können wir uns auch authentisch dazu verhalten. Es bleibt zu hoffen, dass diese Einsicht möglichst bald auch bei der Regierung und ihren Werbetextern Einzug hält.

 

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